Was die Mailingliste aber nicht ist: Ein geeignetes Medium für Diskussionen oder produktive Arbeit.
Warum?
Sie ist nicht repräsentativ.
30% des Emailaufkommens wurde von vier Leuten verfasst. Die zehn häufigsten Schreiber sind verantwortlich für mehr als die Hälfte aller Emails – und das bei über 140 verschiedenen Absendern insgesamt. Unter den wenig bis gar nicht Schreibenden sind Menschen, die ich vom Stammtisch, Parteitagen oder Aktionen kenne. Es ist also anzunehmen, dass auch in anderen Städten und Kreisen Aktive sind, die die Mailingliste kaum oder gar nicht nutzen. (Deren Meinung ist also dort so gut wie nicht vertreten.) Sobald es tatsächlich zu inhaltlicher Auseinandersetzung mit Themen kommt, liest man die immer gleichen Leute.Ja, dabei kommt es zum Austausch von Argumenten. Unter anderem. Repräsentativ für die Meinung der Basis ist das jedoch nicht.
Sie ist unfreundlich.
Unter den Vielschreibern sind Menschen, die sich hauptsächlich unsachlich, themenfremd oder wenig zielführend äußern. Das hilft nicht dabei, eine offene Diskussionskultur zu schaffen. Jedes längere Thema enthält Beiträge, die die Berechtigung der Diskussion in Frage stellen (und damit diese Debatten länger am Leben erhalten). Regelmäßig wird Menschen die Verteilung ihrer Aufmerksamkeit vorgeworfen – dass sie sich mit bestimmten Dingen beschäftigen, oder mit bestimmten anderen Dingen nicht. Das ist destruktiv. Dazu kommen auch immer wieder Unterstellungen, offene und weniger offene Beleidigungen und zum Teil absurde Spekulationen über heimliche Hintergedanken einzelner Standpunkte.Es gibt eine Menge Beiträge, die stehen irgendwo dazwischen: Nicht ganz sachlich, schlecht oder gar nicht begründete Argumente und Meinungen, die ich weder teile noch nachvollziehen kann. Das ist okay. Angriffe auf andere Teilnehmer der Diskussion, Unterstellungen: Nicht okay.
Der Appell hat eine zeitlang dazu geführt, dass insgesamt weniger geschrieben wurde, dass sich viele Äußerungen des lieben Friedens willen einfach verkniffen wurden, und dass manche Dinge lieber direkt angesprochen wurden als für alle auf der Liste. Das hat sehr gut getan. Auf der Unterzeichnerliste fehlen mir jedoch einige Leute, die ich dort sehr gerne gesehen hätte, und zwei Menschen sind ohne Begründung vom Appell zurückgetreten. Damit ist unklar, ob das ein vorübergehender Effekt war oder nicht. Ich für meinen Teil werde mich weiterhin bemühen, ihn einzuhalten – die beschriebenen Verhaltensversprechen sind eine gute Richtlinie für jede Kommunikation. Nicht nur für Unterzeichner, nicht nur auf der Mailingliste, nicht nur unter Piraten.
Sie macht hilflos.
Die Mailingliste hat keinerlei regulierenden Mechanismen, um mit diesen Problemen umzugehen. Sie wird nicht moderiert. Beiträge können nicht mehr gelöscht oder editiert werden. Emails sind öffentlich im Sync-Forum – jedes über-die-Stränge-Schlagen ist für alle Zeiten nachlesbar.Es heißt, man solle Trolle nicht füttern. Unwahrheiten oder Angriffe unkommentiert in aller Öffentlichkeit stehenzulassen kann aber auch nicht die Lösung sein. Denn es gibt etwas, was man immer leicht vergisst: Trolle wissen nicht, dass sie Trolle sind. Es mag Menschen geben, die bewusst Diskussionen sabotieren und Menschen schaden wollen. In aller Regel passiert das jedoch durch Menschen, die nicht wissen was sie tun, oder sich im Recht sehen. Wie überall gilt jedoch auch hier: Etwas kaputtzumachen ist sehr viel leichter als etwas aufzubauen. Dieses destruktive Klima hemmt den ganzen Landesverband, vergrault potentielle Unterstützer und vertreibt produktive Mitglieder. Der vielgerühmte Flausch ist hier Teil des Problems: Er versucht, Dinge unter den Teppich zu kehren, unterbindet Kritik, egal wie sie geäußert wird und schützt unprofessionelle Strukturen, die nicht funktionieren.
Das soll nicht heißen, dass es gar kein Eingreifen gab, wenn etwas aus dem Ruder lief: Von einzelnen Mitgliedern (und auch schon mal vom Vorstand in sehr löblicher Manier) gab es immer mal wieder (wenn auch nicht oft genug) Hinweise darauf, wenn das Thema verfehlt wurde, der Tonfall problematisch war oder ein Beitrag versucht hat, eine Diskussion zu diskreditieren. Genützt hat es oft gar nicht und nie nachhaltig.
Sie blickt auf Interna herab.
Jedes Thema, dass sich mit den inneren Angelegenheiten der Partei befasst, wird als Selbstbeschäftigung abgetan und bekommt meist sehr schnell einen Beitrag der Sorte „habt ihr nichts Besseres zu tun?“. Mit dieser Begründung könnten wir die Partei eigentlich sofort auflösen: Eine Organisation muss sich organisieren. Und in jeder Organisation gibt es Menschen, die sich mehr damit befassen, wie sie organisiert ist, als mit ihrem eigentlichen Zweck. Und das ist gut so. Denn gute Organisation dient dazu, Handlungsfähigkeit herzustellen und es so einfach und produktiv wie möglich zu machen, dass sich Menschen in ihr engagieren. Wem persönlich das Interesse daran fehlt, muss sich damit nicht auseinandersetzen. Wieder und wieder wird an solchen Stellen jedoch blockiert.Die Beteiligung gibt mir an dieser Stelle recht: Von den 25 Themen, die dieses Jahr mehr als zwanzig Mails erreicht haben, waren 19 (!) Interna. Und nur am Rande: Viele Kernthemen der Piratenpartei betreffen das „Wie“ der Politik und nicht das „Was“. Die Forderung nach Transparenz, mehr Basisdemokratie, mehr Mitbestimmung und Barrierefreiheit: Was sind diese Themen, wenn nicht Ansprüche an die Art und Weise, auf die Demokratie gelebt wird? Damit sind viele dieser Interna auch gleichzeitig Inhalte – und wahlkampfrelevant. Ein fortschrittliches innerparteiliches Wahlsystem oder eine ständige Mitgliederversammlung, die auch Programm beschließen kann, können Vorbildwirkung dafür haben, wie wir uns Politik auch außerhalb unserer Partei vorstellen. Und das zieht ebenso Wähler an wie unsere anderen Inhalte.
Sie überzeugt ja doch niemanden.
Ich frage mich oft, ob Argumente je jemanden überzeugt haben. Die Mailingliste ist ein gutes Beispiel dafür: Selbst wenn alles bereits gesagt wurde, streiten Einzelne weiter und weiter, wiederholen sich und degenerieren in Emotionsargumente oder Zirkelschlüsse („das ist doof, weil doof“). Die Liste zeigt sich dabei oft erstaunlich faktenresistent.Die Möglichkeit zum Austausch von Argumenten und zur Begründung von Standpunkten ist wichtig. An sich. Die Liste schießt darüber regelmäßig weit hinaus und ist (siehe „nicht repräsentativ“) bestenfalls ein Zerrbild der Meinungen im LV.
Fazit: Ist das Politik oder kann das weg?
Ich werde die Mailingliste weiter lesen. Sporadisch. Denn informieren über aktuelle Veranstaltungen, Ausschreibungen, Anträge, Beschlüsse und Themen tut sie mich weiterhin. Auf den Diskurs-Teil kann ich jedoch getrost verzichten.LiquidFeedback bietet die Möglichkeit, über Begründungen, Anregungen und Alternativanträge Argumente aufzulisten und mitzuteilen. Seit einiger Zeit sind auch Abstimmkommentare möglich, so dass die eigene Entscheidung mit einer Stellungnahme versehen werden kann. Auf Realversammlungen werden Anträge zusätzlich mündlich vorgestellt. Fragen an Antragsteller kann man ebenso immer stellen – ob per Email, Anregung oder mündlich. Über das Für und Wider von Entscheidungen kann ich auf dem Stammtisch reden, den Kontakt zu Menschen außerhalb auch über andere Kanäle suchen.
Ich habe in meinem einen Jahr Partei Menschen brennen sehen für ihre Sache, für unsere Ziele. Ich habe auch Menschen ausbrennen sehen. Ich selbst will mir das nicht geben. Für meine Meinung kann ich auch anderswo einstehen – in meinem Blog, auf Twitter, in persönlichen Gesprächen, im Wahlkampf und an Infoständen.
Mein Ja zur Partei, zu unserem Programm steht und bleibt unberührt. Der Mailingliste MV als Medium, das ich aktiv nutze, sage ich Tschüß.