Das Klaus

Gesammelte Werke

28.02.2017

Warten - ein Erlebnisbericht

Mir ist seit Sonntag kontinuierlich schwindlig. Ich kann Fahrrad fahren und geradeaus gucken, aber es fühlt sich nicht so an. Der Hausarzt schickt mich zum HNO.

Es ist in diesem Wartezimmer seit einer Stunde nicht vorangegangen. Es sind neun Leute vor mir dran. Ich habe meine Wasserflasche vergessen, genau wie etwas zu lesen. Von den neun Leuten sind vier Kinder. Ich habe schon zwei ausführlichen Diskussionen lauschen dürfen, ob Papa oder Mama mit auf Toilette soll, weil das Kind groß muss und do-hoch, da soll jemand helfen, nein, Papa soll, nicht Mama, und dann soll das Kind rufen wenn es fertig ist und dann ruft es erst, dass es warten muss, weil schon jemand da ist, und dann ruft es nochmal, weil es jemanden pullern hören kann, und dann nochmal, als es selber pullert. Die Wartezimmerbevölkerung blickt den gesamten Austausch hindurch kollektiv teilnahmslos zu Boden.

Hier macht man was mit.

Es gehen zwei Leute. Es sind noch neun vor mir.

Eine Mutter schreibt mit ihrem Kind ein Diktat. Sie legt dabei eine bemerkenswerte Ungeduld an den Tag, und das sage ich als weitbekannter Undulder. "Boah, schreib noch noch größer, hörst du? Weiter, also: Kläähklich rollte der Ball hinter das Tor, hast du gehört, kläähklich, hab ich extra betont, so. Wie weit bist du? Die anderen Kinder, die. Anderen. Kinder. Nichts stopp, machst du das bei deiner Lehrerin auch so? Warten Sie mal kurz, echt? Das machst du?"
"Die macht das aber tausdendmal langsamer."
"Ja, du bist aber auch langsam. So, zeig mal her, gib den Stift. Mensch, du krakelst hier aber rum. Die Ande-renn, hab ich gesagt, nicht andern, hast du nicht zugehört?"
Eine andere Frau lauscht mit tiefen Zornesfalten im Gesicht. Immer, wenn die Mutter das Kind ansieht, wird sie heimlich mit dem bösen Blick bedacht.

Es wird jemand aufgerufen. Sie kommt aus einem Nebenraum, von dem ich bislang annahm, dass er zu den Toiletten führen würde, da vorhin Kinder durch die entsprechende Tür verschwunden sind. Neun Leute sind noch vor mir.

Der Mann neben mir schiebt seine dritten Zähne hin und her. Ich stelle mir vor, ihn aus dem Nichts heraus anzuschreien, er solle das bleiben lassen, und danach weiterzuschreiben, als sei nichts passiert.

Es gibt einen Wasserspender. Seit das Diktat beendet ist, herrscht Totenstille. Ich wage nicht, mich zu rühren.

Ein Kind wird aufgerufen. Es liest noch. Die Mutter fragt, ob es gerade sehr spannend sei. Das Kind liest. Und liest. Und liest.
Schließlich steht es auf, geht zum Mülleimer, der direkt neben dem außerordentlich verlockenden Wasserspender steht, spuckt etwas aus und verkündet: "Fertig!" Die beiden gehen, also, Kind und Mutter, nicht Kind und Wasserspender. Oder Mülleimer.

Es wird jemand aufgerufen. Niemand erscheint aus dem Nebenraum, stattdessen steht jemand auf, der bereits von Anfang an hier saß. Von Anfang an, das ist mittlerweile fast zwei Stunden her. Es sind noch sechs Leute vor mir dran. In mir keimt Hoffnung.

Ich beginne zu vermuten, dass die Frau mit den Zornesfalten vielleicht einfach so aussieht. Diktatmutter und Diktatkind sind lange verstummt, aber die Falten sind immer noch da.

Der Mann neben mir knirscht nicht mehr mit den Zähnen, aber schaut bereits zum zehnten Mal auf die Uhr. Auch sonst kann er die Hände nicht stillhalten. Sein Ärmel weist einen Fettfleck auf, wo er beharrlich daran herumzuppelt. Er streicht seine Hosen glatt, zieht dann am Knie am Stoff, so dass eine Falte entsteht. Diese streicht er dann wieder glatt. Erneut schaut er auf die Uhr. Mein Handy ist längst den Akku-Tod gestorben, ich habe keine Möglichkeit mehr, die Zeit zu bestimmen. Ich binn versucht, dem Mann auf die Uhr zu sehen, wenn er den Arm das nächste Mal hebt. Jetzt. Er streicht sich das Kinn. Ich schaue trotzdem nicht. Feigling.

Der junge Mann auf der anderen Seite wird aufgerufen. ICh bin ein wenig enttäuscht - er hatte ein interessantes Muttermal am Hals. Ein Rohrschachtest to-go. Zornesfalte, Diktatmutter/-Kind oder Zuppelmann wären mir lieber gewesen. Noch vier Leute vor mir, aber ich gehe davon aus, dass Diktatmutter und Kind zusammengehören. Also drei.

Ich überwinde mich und ziehe meine Jacke aus. Die erste Stunde war mir noch kalt, aber ein Wintermantel über Sommerjacke über zwei Hemden entfalten doch irgendwann ihre Wirkung.

Zuppelmann hat sich kaum noch unter Kontrolle. Die Finger bewegen sich unaufhörlich, aber auch die Beine streckt er jetzt alle paar Sekunden aus oder winkelt sie an. Sitzen wird ihm wohl unbequem. Es geht mir maßlos auf den Keks.

Es kommt jemand herein (zum Spritzen - was auch immer da konkret gespritzt wird) und beginnt, sich lautstark mit Zornesfalte zu unterhalten. Auch das geht mir maßlos auf den Keks.

Zuppelmann zuppelt, sieht auf die Uhr, sagt laut: "Puuuh." Ich hasse, dass er neben mir sitzt. Mittlerweile sind viele Plätze frei, dennoch sitzt er direkt neben mir. Er zieht die Socken hoch, streift die Hose glatt, verschränkt die Arme, dreht die Daumen. Dann zuppelt er eine Falte in die Hose, die er sofort wieder glatt zieht.

Spritze wird aufgerufen. Mutter Diktat beschreibt fein aufgeschlüsselt ihre Wochenpläne, inklusive welchen Bus sie wohin nehmen wird. Kind Diktat hört aufmerksam zu und stellt Rückfragen.

Rohrschach kehrt zurück, gewährt mir einen letzten Blick auf seinen Hals, zieht eine Jacke an und geht.

Zuppelmann heißt Herr Waack. Er ist schon halb beim Doktor, ehe dieser seinen Namen vollständig aufgerufen hat, obwohl er nur eine Silbe hat. Ich atme auf.

Spritze ist zurück und beginnt, auf ihrem Handy herumzuspielen.

Mit Ablegen meines Mantels habe ich mir einen Becher Wasser besorgt. Ich erwähne das erst jetzt, weil er jetzt erst trinkbar ist. Er steht seit einer halben Stunde auf der Heizung. An der Außenseite kondensiert immer noch Luftfeuchtigkeit.

Rohrschachs Muttermal ähnelte dem Zentralnervensystem. Ein großes Oval (Hirn) mit ein wenig Gekräusel an der Unterseite (Kleinhirn) und einem langen, seitlich abgehenden Faden - dem Rückenmark. Auch eine Qualle käme in Frage, oder ein Klecks zerlaufender Farbe.

Zornesfalte wird aufgerufen. Jemand anders nimmt eine Jacke weg - wie sich herausstellt, verdeckte sie einen Sitzplatz, den ich übersehen haben muss. Doch noch jemand mehr hier.

Ein Kind kommt herein, legt die Sachen ab und setzt sich. Ein paar Minuten später - es schreibt auf seinem Handy - kommt die Schwester und fragt, ob es hier nur warte.
"Ja, erstmal schreib ich aber noch mit meiner Mutter."
"Das kannst du auch gleich weiter machen, aber gehst du dann auch in Behandlung?"
"Ja, danach."
"Und wie heißt du?"
"Julian."
"Und dein Familienname?"
Julian sagt es ihr. Im Warteraum verbreitet sich ein Lächeln. Das Kind bemerkt nichts Ungewöhnliches an diesem Austausch.

Der Mann, der sich hinter der Jacke verborgen hatte, erklärt der Schwester, sie hätte ihn einfach sitzen lassen sollen. "Ach", wehrt die Schwester ab. "Macht man so." - "Ja, naja. Nee."

Ein paar weitere Minuten später informiert die Schwester Julian, dass er erst in vier Wochen seine Spritze holen kann. Julian stört das nicht. Er möchte dennoch ein wenig bleiben und warten - wohl, bis die Mutter heimkommt.

Die Schwestern reden untereinander. Ein Buchtitel fällt nicht mehr ein. "Neue Schmerzen oder so".
"Die neuen Leiden des jungen Werther", verkündet Spritze hilfreich.
"Gibt's davon nicht zwei?"
"Ja, das eine ist neuer."

Julians Mutter ist der Meinung, er könne jetzt heimkommen, meint Julian und macht sich auf den Heimweg. Auch der Mann, der ihn gern hätte sitzen lassen, steht bald darauf auf und geht. Auf was er gewartet hat, ist unklar.

Die Pflanze am Fenster hat lila, halbdurchscheinende Blätter. Wo sie nicht durchscheinend sind, zeichnet sich eine grüne Struktur ab. Es sieht gar nicht mal schlecht aus.

Außer Spritze, Diktat und mir ist niemand mehr hier. Jedenfalls bis die Tür sich öffnet und zwei neue Leute hereinkommen. Dankenswerterweise wollen sie nur einen Termin - halt, nein. Eine davon will einen Termin, ein anderer hat bereits einen, nimmt Platz und schnürt seine türkisen Turnschuhe neu. Diktatkind heißt Pierre-Ryan. Ich denke schlecht von seiner Mutter.

Noch jemand fragt nach einem Termin. Hat sich schon zwei Monate gequält, kann nicht früh, und noch einen Monat warten erst recht nicht. Ist selbständig und kann sich auf keinen Fall freinehmen. Die Terminsuche ist ein Tauziehen.

Ich trinke den dritten Becher Eiswasser, aber was langsam fehlt, ist Nikotin. Die Praxis müsste bald schließen. Ich bin mit Turnschuh allein.

Auf dem Gelände, auf dem früher das Meli stand, wird bald gebaut, erzählt Spritze. Die Bäume und Hecken, die dort gefällt und entsorgt wurden, sollten anscheinden gar nicht weg. Jemand hat den Plan falschherum gehalten. Nun wird auf einer Seite neu gepflanzt.
"Und der Augensammler, soll ich dir ausrichten, sammelt wirklich Augen."
Schwester: "Ein bisschen eklig, aber spannend. Nee, ist schon cool."
Spritze ist jetzt endgültig weg. Turnschuh wird aufgerufen. Ich bin allein.



Ich hab einen verzögerten Erregungsabfall im linken Innenohr. Oder eine verringerte Erregbarkeit. Oder beides. Ich habe nicht genau zugehört, aber ich bin schon mal heilfroh, dass man etwas gefunden hat. Schwindel, das ist so ein Wischiwaschisymptom, da fühlt man sich ohnehin wie ein Simulant. Die Tabletten muss ich komplett selbst bezahlen (22,85€), aber in ein, zwei Wochen sollte alles wieder beim Alten sein. Dann darf ich nochmal zur Kontrolle. Man darf auf das Wartezimmer gespannt sein.
07.09.2015

Eine Bitte

allerliebster technonachbar
ist weniger techno machbar?

ich will nicht viel, ich brauche nichts von dir
doch meine ruhe hätt ich gern zuhause, hier
weißt du, ich schlafe nicht nur nachts
doch sink ich in in die kissen, kracht's
und rummst's und dröhnt's in einer tour
nicht laut, nicht spät, nicht ständig, nur
so penetrant und monoton
ich wünsche mir ein megafon

durch dünne wände brüllte ich mein klagelied
ein ach, ein weh, ein seufz auf jeden beat
vielleicht wird so ja doch musik daraus
vielleicht auch nicht - ich halt's nicht aus
dass dieser bass so stetig hämmert
unts, unts, unts, unts - ich werd belämmert
kann nicht mehr denken ungestört
ist dir klar, dass man das hört?

die ruhezeiten - zugegeben - hältst du ein
doch muss es wirklich immer techno sein?
ist das nicht schrecklich stumpfsinnig und fad
wenn jedes stück nur drei verdammte töne hat?
und alle stücke pausenlos den gleichen takt
ist das - verzeih - nicht einfach nur beknackt?
weshalb ich nun auf Knien bettel:
hast du nicht ein bisschen metal?
15.06.2015

Junggesellenwohnung - ein Stillleben

brötchen fortgeschrittener gammlung
Kleiderberge gemischten gestanks
bedeckt maximal
jedes horizontal
eine kaffeetütensammlung inhalt des schranks

schwaden aus längst erkaltetem rauch
leere klorollentürme auf fliesen
ein als teller benutzter pizzakarton
geteerte spinnweben auf blankem beton
und auf brackwassertassen nebst verklebtem besteck auch
der toastbrottütenjahresverbrauch

mehr haare im abfluss als auf dem kopf
die tapete schon lang nicht mehr weiß
sitzkissen aus socken
die pflanzen staubtrocken
in der küche ein topf mit schimmelndem reis
19.01.2015

Der letzte Zug

Minuten zu Stunden in peinlicher Stille
dem Sitznachbarn unbekannterweise
ein "Darf ich? Schön' Dank!" beim Besetzen der Bank
und dann wieder leise

Die Fenster zeigen den Reisenden ihr Schweigen
als Metapher klänge das weise
erklärt sich jedoch schnell - außen dunkel, innen hell -
und dann wieder leise

Ein Telefonat, dessen Inhalt sich dreht
um Probleme mit der Empfangsqualität
Räder, die quietschend in Kurven sich neigen
und dann wieder Schweigen
02.10.2014

Humor als Politikum

Gerne wird Gesellschaftskritik als humorlos bezeichnet. "Du verstehst aber auch keinen Spaß" gilt aus irgendeinem Grund als legitime Verteidigung von Sexismus, Rassismus und allen möglichen anderen -ismen, oder auch gewöhnlicher Beleidigung. Damit steht die Befürwortung des ungezügelten Humors auf einer Stufe mit der Forderung nach dickem Fell, die ebenfalls eher problematisch ist.

Dabei handelt es sich um eine einfache Werteabwägung - Spaß und Witz werden über Gerechtigkeit oder Höflichkeit gestellt. Die Freiheit, zu beleidigen, über die Freiheit, nicht beleidigt zu werden. Und, so wenig ich die Rhetorik mag, Täterrechte über Opferrechte. Das ist nicht besonders überraschend, wenn man bedenkt, dass es bei Diskriminierung und sozialer Ungerechtigkeit immer viel mehr Täter als Opfer gibt. Das macht Machtverhältnisse in der Regel aus.

Dergleichen Wertehierarchie findet sich sehr oft in Argumentationen. Man denke nur daran, dass die Breast Cancer Research Foundation den Namen "save the ta-tas" trägt, als wäre das Ziel von Brustkrebsfrüherkennung, Brüste zu retten und nicht Menschenleben (schließlich kann auch eine Früherkennung eine OP oft nicht verhindern - wohl aber den Tod der Betroffenen). Oder die "Consent is Sexy"-Kampagne für verbalisierte Einvernehmlichkeit im sexuellen Kontakt, als wäre Sexiness bedeutsamer als verhinderte Vergewaltigungen. Das ist natürlich unfair diesen Kampagnen gegenüber - sie wählen Worte, die etwas bewirken, Aufmerksamkeit wecken, Zustimmung erzeugen. Aber sie zeigen damit auch, wo die Prioritäten ihres Klientels liegen.

Prioritäten sind individuell verschieden

Man muss ja nicht gleich Menschenleben gegen Brüste aufwiegen: die meisten Meinungsverschiedenheiten über Humor entstehen zwischen mildem Vergnügen und milder Entrüstung, und welche Auffassung "richtig" ist, liegt im Auge des Betrachters, insbesondere, da sowohl Vergnügen als auch Entrüstung persönliche Empfindungen sind, die nicht durch Fremdzuschreibung gemessen werden können. Was wie verletzend ist, lässt sich nicht objektiv festschreiben. Es gibt durchaus Interpretationen, die verbreitet oder allgemein anerkannt sind, aber letztendlich bleibt es persönliche Einschätzung und kann daher nicht anderen aufgestülpt werden. Umgekehrt gilt das natürlich ebenso für Humor.

Humor ist nicht universell

Es gibt keine objektive Lustigkeit. Ob ein Witz gut oder schlecht ist, hängt immer vom Betrachter ab. "Ach komm, der war jetzt wirklich witzig" ist eine persönliche Einschätzung. Niemand kann festlegen, was ein anderer wie witzig zu finden hat. Genauso kann niemandem vorgeschrieben werden, dass er etwas nicht lustig finden darf. Es bedarf also Kommunikation über die eigenen Gefühle, nicht Streit um die Zulässigkeit derer des Anderen. Im Klartext heißt das: jeder darf die Witze machen, die er will, und jeder darf die Witze kritisieren, die er will. Kritik an Äußerungen wird nicht ungültig, wenn die Äußerung für den Äußernden irgendwie doch aber lustig war.

Humor hat ein Narrativ

Nicht, worüber gescherzt wird, ist inhärent problematisch, sondern welche Geschichte damit erzählt wird. So gibt es eine Menge Humor, der ohne Opfer auskommt, und ebensoviel, der Diskriminierung angreift, anstatt sie zu reproduzieren. In emotional belastenden Berufen oder Lebenssituationen greifen manche Menschen auf Galgenhumor zurück, finden also durchaus komische Elemente in Dingen, über die man normalerweise nicht spaßt. Galgenhumor ist gekennzeichnet davon, das Menschen über sich selbst oder ihre Situation lachen, nicht das Leid anderer zur Pointe relativieren. Das wird deshalb wenig kritisiert, weil geschmackloser Humor nicht zwangsläufig den Ernst einer Sache abstreiten muss.

Bedenklich ist, dass eine große Menge an Witzen über Tabuthemen sich explizit über Benachteiligte lustig machen. Das liegt nicht am Thema, sondern am Narrativ - die Benachteiligung selbst wird zum witzigen Element erklärt. Dabei ließe sich der Spieß ohne Weiteres auch umdrehen. Es ist zum Beispiel für Judenwitze nicht nötig, bestehende Klischees zu bedienen und sich über Juden lustig zu machen. Denn genausogut (und viel besser!) kann man über Menschen mit antisemitischen Vorurteilen lachen, oder über antisemitische Verschwörungstheorien. Es kommt nicht darauf an, über wen man redet, sondern über wen man am Ende lacht. (Das soll nicht heißen, dass Judenwitze zum guten Ton gehören.) Niemand erklärt das besser als Lindy West anhand von Vergewaltigungswitzen.

Es gilt immer noch, dass das nicht jeder lustig findet, dass es immer möglich ist, unbeabsichtigt Leute zu verletzen, und dass man ein Arschloch ist, wenn man absichtlich Leute verletzt, oder sich über die Verletzung selbst lustig macht.
Es gibt eine Sorte ach-so-lustiger-Youtube-Videos, die es in den Mainstream geschafft haben, die Menschen bei Unfällen zeigen. Kinder, die vom Skateboard fallen. Motorradfahrer, die nach einem halben Looping in die Sandbahn stürzen. Betrunken Tanzende, die vom Tisch rutschen. Schadenfreude aus der Konserve. Ich halte den Humor eines Menschen für ein recht gutes Aushängeschild eines Charakters. Schadenfreude ist das Äquivalent von Sadismus. Der wird dadurch nicht besser, dass dabei gelacht wird.

Fazit

"Keinen Sinn für Humor" zu haben, ist daher mitnichten ein Charakterfehler. Die meisten Menschen, über die das gesagt wird, finden durchaus auch Dinge lustig, nur eben andere. Schwarzer Humor ist weder eine elitäre Königsdisziplin der Komik, noch etwas, das immer zu Lasten der Unterdrückten gehen muss. Und Humor ist keine Enschuldigung für Diskriminierung. Niemals.
18.08.2014

Troll - Eine Werwolfvariante für Parteitage

Wer (aus welchen Gründen auch immer) Sehnsucht nach Parteitagen hat, obwohl gerade keiner stattfindet, kann sich die Zeit mit dieser Werwolf-Variante vertreiben. Einfach ausdrucken, Spielanleitung lesen, Karten ausschneiden und mindestens sieben Mitspieler finden. Dieses Spiel erhebt keinerlei Anspruch an Realitätsnähe.

Wieder einmal versammeln sich die Mitglieder von $Partei, um ihren Vorstand zu wählen, der sie zu neuen Wahlerfolgen führen soll. Doch unter ihnen sind Trolle, die ebenfalls um Ämter kämpfen. Und auch das Parteiengesetz will eingehalten werden ...
Anleitung und Karten als pdf (1,53 MB)

Zum Verändern und basteln:
Karten als svg
Karten in png-Format als zip-Archiv
Anleitung als txt

Spielvorbereitung:

Die Karten werden ausgedruckt, ausgeschnitten und entsprechend der Spieleranzahl abgezählt. Die Kandidaturkarten werden dabei nicht mitgezählt. Auf eine ausgeglichene Verteilung der Rollenkarten sollte geachtet werden, etwa die Hälfte der Spieler sollten Basismitglieder, etwa drei Viertel gefahrlos wählbar sein.
Die Spieleranzahl wird durch drei geteilt und aufgerundet, um die Größe des Vorstands zu bestimmen. Die entsprechende Menge Kandidaturkarten wird unter die Rollenkarten gemischt.

Ein Spielleiter wird bestimmt. Die übrigen Spieler setzen sich annähernd kreisförmig in den Raum, so dass der Spielleiter sich frei unter ihnen bewegen kann. Er teilt nun für die Spieler verdeckt die Rollenkarten aus. Stößt er auf eine Kandidaturkarte, wird diese offen vor den Spieler, der zuletzt eine Rollenkarte erhalten hat, gelegt.

Nun beginnt die Anreisephase: jeder Spieler schaut sich zunächst seine eigene Karte an. Auf Geheiß des Spielleiters begeben sich die Mitglieder in ihre Hotels, das heißt sie schließen die Augen. Die Sonderrollen werden nun nacheinander aufgerufen, dürfen die Augen öffnen und, falls Rollen mehrfach im Spiel sind, einander erkennen und dann wieder einschlafen.

Spielverlauf:

Am Morgen beginnt der erste Wahlgang: alle Spieler bestimmen unter den Kandidaten ein neues Vorstandsmitglied. Dabei dürfen sie Kandidaten befragen, sich untereinander absprechen oder Reden halten, bis aller Diskussionsbedarf erschöpft ist. Dann kommt es zur Stimmabgabe.

Die Wahl wird entweder mit Stimmzetteln, auf denen die Kandidatennummer notiert wird und die vom Spielleiter eingesammelt werden, oder über eine Strichliste durchgeführt. Diese wird vom Spielleiter herumgereicht, wobei vorangegangene Stimmen verdeckt werden müssen. Haben alle Spieler ihre Stimme abgegeben oder sich durch Abgabe eines leeren Zettels enthalten, ist der Wahlgang beendet.

Parteitage sind eine zähe Angelegenheit: nach jedem Wahlgang folgt nun eine Auszählpause, in der getrollt, zurückgetreten, kandidiert werden kann. Während der Auszählpause schließen zunächst alle Spieler wieder die Augen. Nach und nach erwachen nun die Sonderrollen und können ihre Ämter und Funktionen nutzen, bevor sie wieder einschlafen. Haben mehrere Spieler die gleiche Sonderrolle, müssen sie sich nonverbal auf eine gemeinsame Aktion einigen.

Basismitglieder haben keine besonderen Fähigkeiten oder Rechte und verbringen die Auszählpausen mit Essen, Gesprächen oder Partyspielen.

Auch eine Kandidatur bringt in dieser Phase keine speziellen Privilegien mit sich.

Zunächst können amtierende Vorstände ein Mitglied in der Mitgliederdatenbank nachschlagen und damit Einsicht in dessen Rollenkarte erhalten.

Mandatsträger können einzelne Mitglieder vor Austritt, Parteiausschluss und Hausverboten bewahren. Im Gegensatz zu anderen Rollen kann dabei jeder Mandatsträger einen anderen Spieler beschützen.

Dann haben die Trolle Gelegenheit, ein Mitglied zum Austritt zu bewegen. Die Rollenkarte des betroffenen Spielers wird vom Spielleiter eingesammelt. Handelt es sich um einen Kandidaten, können die Trolle bestimmen, wer an dessen Stelle nun kandidiert. Die Kandidaturkarte wird mit der leeren Rückseite zuoberst an ihren neuen Platz gelegt. Ist das betreffende Mitglied geschützt, schlägt die Trollerei fehl.

Nun tagt das Schiedsgericht und kann ein Parteiausschlussverfahren verhandeln. Auch dabei wird, sofern das Mitglied nicht durch Mandatsträger geschützt ist, die Rollenkarte des betroffenen Spielers eingesammelt und gegebenenfalls seine Kandidaturkarte umgedreht neu platziert.

Versammlungsleiter können Hausverbote aussprechen, mit den gleichen Folgen wie Parteiausschluss und Austritt.

Zuletzt bekommen die Wahlleiter die Möglichkeit, die Kandidatenliste zu verändern. Dabei wird eine Kandidaturkarte – ob umgedreht oder nicht – von einem Spieler zu einem anderen transferiert.

Auszählung:

Nun sind die Urnen (hoffentlich) ausgezählt – diese Aufgabe hat in diesem Fall der Spielleiter. Ist der gewählte Kandidat ausgeschieden, die betreffende Kandidaturkarte also verdeckt, kommt es zu einer Wiederholung des Wahlgangs mit veränderter Kandidatenliste. In jedem anderen Falle wird die Rollenkarte des Kandidaten aufgedeckt und dieser scheidet als neuer Vorstand aus dem Spiel aus, da er eilig zur Pressekonferenz berufen wird. Seine Kandidaturkarte wird eingesammelt und verdeckte Kandidaturkarten aufgedeckt. Nun kann der nächste Vorstandsposten besetzt werden, wenn der Parteitag nicht vorzeitig ein Ende gefunden hat ...

Spielende:

Wurde ein Troll in den Vorstand gewählt, gewinnen die Trolle das Spiel. Die Basis verlässt den Parteitag, Amtsinhaber treten zurück und der neue Vorstand ist sofort handlungsunfähig. Ist ein gewählter Kandidat Wahlleiter oder Schiedsrichter, verstößt der Parteitag gegen Wahlordnung, Satzung und Parteiengesetz gleichermaßen. Die Versammlungsleitung schließt den Parteitag. In diesem Fall gibt es keine Gewinner.
Sind aus allen Kandidaten reguläre Vorstände geworden, endet das Spiel mit einem Sieg für die Basis.

Für Fortgeschrittene:

Wahl- und Versammlungsleiter haben die Möglichkeit, von ihren Parteitagsämtern zurückzutreten und umgehend Nachfolger zu bestimmen. Dies muss während ihrer Sitzung in der Auszählungspause signalisiert werden. Sie können entweder mit ihrem Nachfolger die Rolle tauschen oder eine zufällige aus den verbleibenden oder eingesammelten Karten ziehen. Kandidaturen werden davon nicht berührt.

Während der Aussprache eines Wahlgangs hat die Basis die Möglichkeit, die Absetzung der Wahl- oder Versammlungsleitung per Geschäftsordnungs-Antrag mit einfacher Mehrheit zu fordern. In diesem Fall tauscht der Wahlleiter mit dem GO-Antragsteller die Karte.

Das wär's. Ich wünsche viel Vergnügen. Wer eine Runde spielt, lädt mich bitte dazu ein. Feedback und Erfahrungen sind immer willkommen.
21.05.2014

Szenen einer Partnerschaft

Morgens um vier.
R. schaut Film, am Rechner, über Kopfhörer.
Ich schaue auch Film, am Laptop, im Bett.

Ich: "Weißt du, was ich an dir mag?"
R. (pausiert den Film): "Na?"
Ich: "Dass du dich von mir beim Filmgucken unterbrechen lässt, wenn ich irgendwo ein lustiges Wort gefunden hab. Oder ein lustiges Gif. Oder mir über irgendwas Gedanken mache. Oder dich einfach nur von der Seite vollsülzen will."
R.: "Ja, ich setze halt Prioritäten."
Ich: "Dabei guckst du ja grad Film. Und ich hab ja meist auch nichts interessantes zu sagen."
R.: "Ich mag die Frequenz, mit der du das machst. Eigentlich sehr angenehm."

Pause.
R. macht den Film wieder an.

Ich: "Und weißt du, was ich auch mag?"
R. (pausiert): "Na?"
Ich: "Dass du nicht mal wütend wirst, wenn mir noch was einfällt, obwohl du grade erst den Film wieder angemacht hast."
R. zuckt mit den Schultern, schenkt mir ein strahlendes Lächeln und macht den Film wieder an.

Pause.

Ich: "Weißt du, was ich mich frage?"
R. (schaut unbeirrt weiter): "Wie oft das hintereinander funktioniert?"
16.03.2014

Prostitution: zur verqueren Moral von Verboten

Seit langem will ich etwas zu Prostitution schreiben. Immer hält mich davon ab, dass ich Überzeugungen zu Wirksamkeit von Maßnahmen und gegenwärtigem Ausmaß von Menschenhandel und Zwangsprostitution schlecht belegen kann. Ich habe da mal eine Studie gelesen und Statistiken gesehen, und finde die nicht wieder, oder ich schiebe vor mir her, Zahlen und wissenschaftliche Arbeiten zu beschaffen und zu recherchieren. Ich habe die Fakten nicht parat.
Aber hier geht es nicht um Fakten, hier geht es um Moral - das zeigt der Tonfall der Debatte immer wieder und spiegelt sich in Argumenten auf allen Seiten. Und wenn es um Moral geht, lässt sich mein Standpunkt meist zusammenfassen mit "Lasst die Leute doch!". Menschen mit Verboten an etwas zu hindern, heißt, ihnen Freiwilligkeit zu verwehren, ihnen eine Option zu nehmen. Das geschieht nicht immer aus guten Gründen. Sollte es aber. Prinzipiell gehen wir in meiner Wunschvorstellung davon aus, dass alles erlaubt ist, und verbieten und regulieren dann dort, wo es nötig ist, und zwar evidenzbasiert und nicht auf Grundlage davon, was sich richtig anfühlt und was nicht. So gibt es für viele Berufe Sicherheits- und Gesundheitsvorschriften. Einen ganzen Berufszweig zu verbieten geht eigentlich nur dort, wo die gehandelte Ware oder Dienstleistung an sich illegal ist: Drogenhandel oder Auftragsmord, beispielsweise. Da Sex an sich erlaubt ist, würde ein Prostitutionsverbot de fakto bedeuten, dass man ihm keinen Geldwert zuweisen darf.

Wie absurd das ist, illustriert eine Studie, die untersucht, welche Gründe Menschen zu Sex bewegen. Darunter sind nicht nur Lust und Liebe zu finden, sondern auch Langeweile, Selbstbestätigung, das Vergnügen des Partners und Manipulation. Nicht immer ist das eigene oder gemeinsame Vergnügen also ausschlaggebend, und Sexualität im Tausch anzubieten ist nicht allzu ungewöhnlich: für Status, Symphatie, eine tiefere Bindung oder eben auch Geld. Dabei schließen sich diese Gründe nicht gegenseitig aus: Sex, den ich aus Liebe habe, kann mir durchaus auch Lust bereiten, und Sex, der einem erhöhten Status dient, kann mit einer tiefen Verbindung einhergehen. Beweggründe für menschliches Handeln sind in aller Regel komplex, und die Beweggründe anderer in Frage zu stellen, wie es in der Prostitutionsdebatte regelmäßig passiert, greift tief in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen ein. Warum Menschen sich für Prostitution entscheiden, kann also Gegenstand der Debatte sein, aber niemals unterstellt werden.

Weil es leider immer noch nötig ist, das direkt zu sagen: in der Prostitutionsdebatte geht es nicht um Zwangsprostitution oder Menschenhandel. Beides ist illegal und soll es auch bleiben. Auch kann nicht behauptet werden, dass es an harten Strafen mangelt: hier kommen Zwangsarbeit, Menschenhandel, Nötigung, Freiheitsberaubung und Vergewaltigung zusammen: alles keine Kleinigkeiten. Man kann bessere Aufklärung, Beratungsstellen, intensivere Verfolgung und bessere personelle Ausstattung der ermittelnden Stellen fordern - stattdessen wird die Kriminalisierung der Prostitution insgesamt postuliert. Das ist ungefähr so, als wolle ich gegen Kinderarbeit in Fabriken vorgehen, indem ich Fabriken verbiete.
Ich halte die Problematik von Menschenhandel und Zwangsprostitution daher für vorgeschoben. Betroffene mögen mir verzeihen, dass ich hier über freiwillige Prostitution spreche.

Gegen diese wird angeführt, sie reduziere Menschen auf Lustobjekte, wäre unwürdig, widerlich und niemand würde sie wirklich freiwillig ausüben. Das wirft die Frage auf, was eigentlich "wirklich" freiwillig bedeutet. Natürlich dürfte der Anteil derer, die dieser Arbeit zur Selbstverwirklichung nachgehen, eher gering sein. Dass das niemandem Spaß machen kann, ist allerdings Blödsinn: Sexarbeit setzt Anbieter sexueller Dienstleistungen in eine sexuelle Machtposition. Finanziell messbar begehrt zu werden, kann Selbstwertgefühl und auch Lust steigern. Geld für etwas zu bekommen, das üblicherweise kostenlos gehandelt wird, ist auch Zeichen von Wertschätzung für die angebotene Leistung. Die geschäftliche Abwicklung kann auch Fokus eines Fetisch sein. Und wenn wir von Menschenwürde sprechen: Als degradierend kann es sowohl empfunden werden, jemandem zu Diensten zu sein, als auch, jemanden bezahlen zu müssen.

Problematisch wird all das eigentlich nur, wenn Not ins Spiel kommt. Wie nötig muss man das Geld, das man auf diese Weise verdient, haben, damit nicht mehr von Freiwilligkeit ausgegangen werden kann? Und man kann ja davon ausgehen, dass sich Menschen in aller Regel vorrangig des Geldes wegen prostituieren - sonst hätten sie ja schließlich unbezahlten Sex. Nun servieren Menschen aber auch des Geldes wegen Burger, tragen Zeitungen aus oder reinigen Hotelzimmer. Das macht diese Tätigkeiten nicht weniger freiwillig. Gastarbeiter, die für Hungerlöhne Spargel stechen, Dienstleister, die auf Schritt und Tritt von Arbeitgebern überwacht werden und Praktikanten, die für leere Versprechungen zukünftiger Jobs in umkämpften Branchen Arbeitsschutz und Arbeitszeiten ignorieren und ignorieren lassen sind genauso Opfer von Ausbeutung - niemand käme auf den Gedanken, darum Spargel zu verbieten. Armutsprostitution bekämpft man nicht, indem man Prostitution, sondern Armut bekämpft. Illegale Zuwanderung von Sexarbeitern ist deshalb so groß, weil den Betroffenen legale Zuwanderung (oder legale Arbeit) nicht möglich ist. Kaum jemand lässt sein Zuhause und seine Familie zurück, der es nicht nötig hätte. Diese Not muss man bekämpfen, nicht die Linderung, der Leute hinterherreisen.

Klar ist, dass Menschen verschieden sind. Während Prostitution für den einen sexuelle Befreiung bedeutet, wäre sie für den anderen traumatisierend, und für den nächsten eine unangenehme, unliebsame Pflicht. Zu Prostitution darf niemand gezwungen werden, nicht mit Gewalt und nicht durch finanzielle Not. Nur, dass das im Prinzip auch für Callcenterarbeit gilt. Zwangsarbeit ist verboten und zumindest in Theorie gibt es die freie Berufswahl. Dass die Sanktionsmöglichkeiten von Hartz-IV und das Konstrukt von "zumutbarer Arbeit" das in der Praxis unterwandern, ist ein erhebliches Problem. Niemand will, dass Prostitution "zumutbare Arbeit" wird. Wie für andere Berufe auch gilt hier: das muss einem schon liegen. Und das muss man auch können.

Es ist ja auch so ein Vorurteil, dass Prostitution eine Art Notlösung wäre, die jedem offen stünde. Halt: die jeder Frau offen stünde. Ich habe bis jetzt bewusst darauf verzichtet, geschlechtsspezifisch zu werden: ein überwiegender Teil der Prostituierten mag weiblich sein, aber erstens betrifft die Debatte auch die männliche Minderheit, und zweitens macht es keinen Unterschied für die theoretische Zulässigkeit als Beruf. Dass es in der Regel Männer sind, die die Dienstleistungen von Frauen in Anspruch nehmen, ist historisch gewachsen aus einer zutiefst sexistischen Gesellschaft, die lange Zeit Männern das Einkommen für derartige Ausgaben und Frauen kaum andere Wege der Selbständigkeit eingeräumt hat. Dass es vereinzelt Männer unter den Anbietern und Frauen unter den Kunden gibt, sollte als Beleg dafür ausreichen, dass es sich dabei nicht um eine zwangsläufige, natürliche Konstellation handelt.
Im öffentlichen Bewusstsein gilt Prostitution jedenfalls als Zeichen extremer finanzieller Not - oder unnatürlicher moralischer Verdorbenheit. Letzteres ist so diskriminierend und menschenverachtend, dass ich darauf gar nicht weiter eingehe. Ersteres wertet die Qualifikation, die der Beruf erfordert, aber ebenfalls ab. Der Markt für "Leute, die, weil sie das Geld so dringend brauchen, widerstrebend Dinge mit sich machen lassen" ist längst nicht so groß wie der für Menschen, die wissen, was sie tun und darin gut sind. Und vergessen wir nicht, dass der potentielle Kundenkreis sehr schnell schrumpft, je mehr der Anbieter vom gängigen Schönheitsideal abweicht.

Gute Sexarbeit verdient Respekt. Nicht, weil Sexarbeiter der Menschheit einen großen Dienst erweisen oder zwangsläufig Schreckliches ertragen. Sondern weil jeder Mensch einen respektvollen Umgang mit Entscheidungen verdient, die niemandem schaden.
Denn wem schadet es eigentlich, dass sexuelle Handlungen angeboten werden? Fragt man Alice Schwarzer, lautet die Antwort: den Frauen. Weil die Verfügbarkeit des Angebots suggeriert, dass Frauen eine Ware seien, die man kaufen könne. Dass sich Schwarzer beharrlich weigert, den Unterschied von Waren und Dienstleistungen zu verstehen, ist schmerzhaft. Ich kaufe ja auch nicht den Masseur, der meine Rückenschmerzen beseitigt, dabei ist der Effekt ein ähnlicher: ich erwarte physisches Wohlbefinden für mein Geld, will entspannt und wohlgelaunt das Etablissement verlassen, und erkaufe mir Zufriedenheit, selbst wenn keine medizinische Indikation vorliegt, die die Prozedur notwenig machen würde.

Ohnehin wird oft die Frage gestellt, ob Prostitution ein Beruf wie jeder andere sei. Aber was ist denn "jeder andere" Beruf? Und: natürlich ist Prostitution irgendwie anders. So, wie viele Berufe irgendwie anders sind. Es wird immer gern der Anschein erweckt, man könne Prostitution mit nichts vergleichen. Dabei kann man! Ist ganz leicht!
Ich bin zum Beispiel nicht der Erste, der auf die Idee gekommen ist, Prostituierte mit Soldaten zu vergleichen. Es gibt viele Menschen, die den Beruf und alle, die ihn ausüben, vehement ablehnen ("Soldaten sind Mörder"). Es ist unklar, ob er überhaupt gemacht werden muss, und Menschen, die ihn ergreifen, sehen sich einer Reihe Vorurteile ausgesetzt. Viele können es sich für sich selbst nicht vorstellen, und diejenigen, die es können, sind oft von romantisierten Darstellungen geprägt. Viele entscheiden sich vor allem der sicheren Existenz wegen dafür, oder aus anderen "schlechten" Gründen: Abenteuerlust, Heldenträume, Ziellosigkeit, Risikofreude. Nun kann man einlenken, dass Soldaten heutzutage nicht nur zum Töten ausgebildet werden. Ebenso geht es bei Prostitution aber nicht nur um Geschlechtsverkehr (Stichwort Soft Skills: Menschenkenntnis, Selbstvermarktung und vergessen wir nicht all die anderen Formen von Sexarbeit).
Trotzdem stellt sich erstaunlicherweise niemand, der diese Wahl selbst nie treffen würde, hin und erklärt, niemand könne freiwillig Soldat sein.

Wer jetzt auf die Idee kommt, ich wolle Sex mit Gewalt gleichsetzen: nehmen wir einmal Kunst. Verkauft ein Orchestermusiker seine Seele, weil er so spielen muss, wie es ihm Komponist und Dirigent vorgeben? Ist Musik nicht etwas, das vor allem mit Gefühl zu tun hat, eine Ausdrucksform für persönlichste Empfindungen? Lässt sich so etwas verkaufen, noch dazu, wo doch viele Menschen privat, unentgeltlich für- und miteinander singen und musizieren? Geht nicht der Zauber verloren, wenn man Fremde auf Zuruf zum eigenen Vergnügen performen lässt?

Was genau ist an Sex so anders, dass es so viel Unmut hervorruft, auch nur zu gestatten, dass Menschen ihn vermarkten?
Das Problem ist in der Sexualmoral zu finden. Der einzige Unterschied einer Prostituierten zu, sagen wir, einer Friseurin, ist die Art der Dienstleistung. Für jede andere Tätigkeit ist es legitim und wird auch so empfunden, Menschen zu bezahlen. Ich kann mir, sofern ich über die Mittel verfüge, die Wohnung putzen, das Fahrrad reparieren, den Hund Gassi führen und meinen Kindern Nachhilfe geben lassen. Aber auch, wenn es um reines Wohlbefinden geht, steht mir eine Vielzahl an Dienstleistern zur Auswahl, die sich gegen Geld meines körperlichen oder seelischen Wohlbefindens annehmen: Schauspieler, "Alternativmediziner", Musiker, spirituelle Berater, Masseure, sie alle dienen dazu, dass ich etwas empfinde, dass es mir gut geht. Und niemand nimmt es mir übel, wenn ich keinen Gedanken an ihren Spaß dabei verschwende. Vor einer Pediküre wasche ich mir vermutlich die Füße und pflege einen höflichen Umgang mit meinem Dienstleister, aber ob dieser daran Spaß hat oder nicht oder tiefe Befriedigung, ja persönliche Befreiung dabei empfindet, geht mich nichts an - ich zahle schließlich für mein eigenes Wohlergehen. Was also ist an Sex anders?

Hier kollidieren verschiedene Vorstellungen von Sex. Wer Jungfräulichkeit zu moralischer Reinheit stilisiert, Sex als Ausdrucksform von tiefer Zuneigung betrachtet, die es für besondere Menschen zu reservieren gilt oder Lust als Geschenk an die große Liebe (oder gar als notwendiges Übel zur Fortplanzung), wird mit Prostitution weder als Kunde noch als Anbieter etwas anfangen können. Wer Sex primär als physische Befriedigung eines Bedürfnisses sieht, hat mit einem Handel derselben üblicherweise weniger Schwierigkeiten - weder gegen Geld noch als sozialen Kitt. Es existieren mehrere, scheinbar widersprüchliche Narrative zu Sexarbeit, die verschiedenen Anschauungen und Erfahrungen geschuldet sind. Keine Seite profitiert davon, das Narrativ der anderen zu ignorieren. Prostitution kann Selbst- wie Fremdausbeutung sein, es kann genausogut eine Dienstleistung wie jede andere sein - je nachdem, wie das Empfinden der ausübenden Person dazu ist. Wir müssen zunächst akzeptieren, dass verschiedene Menschen verschiedene Realitäten erleben, und diese durch die Existenz anderer Erlebnisse nicht weniger real werden.

Dass eine Tätigkeit vielen Menschen, die sie ausüben, nicht gut täte, ist ein Werturteil über die freien Entscheidungen anderer und sehe ich damit als nicht zulässig an, danach Politik zu betreiben. Um grassierenden Problemen in der Prostitution zu begegnen, sind diese Werturteile nicht hilfreich. Ausbeutung, Not und schlechten Arbeitsbedingungen kann und muss man gegenübertreten, ohne das Stigma zu verschärfen. Die Kampagne Alice Schwarzers ist an dieser Stelle Teil des Problems.
Menschen, die zu gewalttätigen Partnern zurückkehren, wird diese Entscheidung, die für sie in der Regel nur Leid, finanzielle und emotionale Abhängigkeit und weitere Gewalt bedeutet, nicht von staatlicher Seite versagt. Ein solcher Vorschlag würde wegen seines unzulässigen Eingriffs in die Autonomie der betroffenen Menschen und der fremdbestimmten Zuschreibung, was gut und was schlecht für andere ist, sicher empört abgelehnt. Bei Prostitution hingegen ist die Zuschreibung der Opferrolle gang und gebe. Das muss aufhören.

Man muss sich bei politischen Forderungen immer fragen, was das Ziel sein soll, und ob die Forderung geeignet ist, dieses Ziel zu erreichen oder ihm zumindest näher zu kommen. Geht es um weniger Prostitution? Ein respektvolleres Frauenbild in der Gesellschaft? Abschaffung von Objektifizierung? Von sexueller Repression?

Was ich fordere, ist die vollständige Legalisierung von Prostitution, und die Regulierung derselben durch Maßnahmen, die geeignet sind, Arbeitsbedingungen und Sicherheit tatsächlich zu verbessern - damit kennen sich andere Menschen besser aus, und an dieser Stelle lohnt es, die Forderungen der Sexarbeiter selbst anzusehen. [An dieser Stelle mussten tote Links leider entfernt werden. Einen Überblick über die Interessen von Sexarbeitern kann man sich beim Berufsverband Sexarbeit oder dem Bündnis der Fachberatungsstellen für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter verschaffen] Darüber hinaus zeigt das Thema auch andere Problemfelder auf: in der Einwanderungs-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Dass die Fakten- und Studienlage so dürftig ist, ist ebenfalls ein Alarmsignal: ich wünsche mir mehr Untersuchungen und damit mehr Möglichkeiten, Wirksamkeit und Unwirksamkeit von Regulierungsmaßnahmen zu überprüfen.

Ich weise darauf hin, dass ich trotz der ungewöhnlichen Länge dieses Posts kaum an der Oberfläche kratzen konnte. Ich habe weder über die Situation von Freiern noch der von Förderern der Prostitution gesprochen, auch alle anderen Formen der Sexarbeit ausgeklammert, nicht über Pornografie, Jugendschutz, Objektifizierung und Sexismus geschrieben und ohnehin nur den moralischen Aspekt eines Totalverbotes angerissen. All das gilt allerdings nicht nur für die Ausübung, sondern auch für die Inanspruchnahme der betreffenen Dienstleistungen. Freierbestrafung betrachte ich daher als dasselbe in grün.
14.03.2014

Geschlechtergerechte Sprache

Sprache ist ein Medium und kann sowohl zur Diskriminierung als auch Inklusion verwendet werden. Sprachliche Konventionen machen außerdem Diskriminierungen und Privilegien in der Gesellschaft sichtbar. Da sich Sprache in der Regel nur langsam entwickelt, finden sich auch immer Hinweise auf historische Attitüden darin.

Von der Veränderlichkeit der Sprache

Wörter haben eine Bedeutung. Diese Bedeutung wird kollektiv durch ihre Verwendung definiert, unterliegt also einem Wandel, der selten von der kompletten sprechenden (und schreibenden) Bevölkerung auf einmal vollzogen wird. Vielmehr ist ein solcher Wandel etwas, das sich schrittweise zunächst in einzelnen Kreisen und Gruppen entwickelt, und sich dann im Rest der Bevölkerung etabliert - oder auch nicht. Die meisten Versuche, Sprache bewusst zu beeinflussen, sind fehlgeschlagen und untergegangen, weil sie sich nicht verbreitet haben. Andere sind in die Alltagssprache übergegangen, ohne dass die dahinterliegende Absicht überhaupt noch bekannt wäre. Und zu guter Letzt werden Begriffe entwendet, übernommen, gekapert und umgedeutet, Konnotationen verschwinden, schlagen ins Gegenteil um oder verfestigen sich. Nicht immer ist es möglich, den Status quo eines Begriffes klar einzufangen, da er von verschiedenen Leuten verschieden verwendet wird. Der Duden bemüht sich, ein klares Abbild der aktuell verwendeten Wörter zu schaffen, kann sich bei seiner Einschätzung aber sowohl irren als auch selbst Einfluss nehmen durch die Legitimation von Neologismen oder deren Nichtaufnahme.
Kurz: Sprache ist kompliziert. Sie wabert.

Alles ist erlaubt

Jedes Wort, aber auch jede grammatikalische Regel war irgendwann einmal falsch. Und zwar genau solange, bis so viele Menschen "falsch" gesprochen oder geschrieben haben, dass es schließlich richtig wurde. Jeder, der eine Sprache verwendet, zerrt an ihr und drückt ihr seine eigene Verwendung auf. Dialekte sind ein Beispiel dafür: nie käme ich auf die Idee, langweilick statt langweilich zu sagen, eine nicht unerhebliche Menge Menschen sieht das aber anders und sagt es einfach, ohne mich zu fragen. Mit der Zeit verändern sich Aussprache, aber auch Schreibweise. Aus itzt wurde jetzt. Aus E-Mail wurde Email. Aus Delphin Delfin. Und immer gab und gibt es Menschen, die sich einfach nicht an die Regeln halten. Ich kann mir nicht abgewöhnen, kucken statt gucken zu schreiben, nichtssagend statt nichts sagend. Das ist noch harmlos gegen diejenigen, die mit Apostrophen um sich schmeißen, als wären sie Falschgeld, das schnell unters Volk gebracht werden müsse. Aber die dürfen das. Mit Verlassen der Schule gibt es keine Bewertung der Rechtschreibung und des Stils mehr. Erlaubt ist, was gefällt - es mag wenig professionell erscheinen, aber wenn die Korrektur Willi´s Bahnhof's Markts den Umsatz steigern würde, wäre sie längst erfolgt. Willi darf das. Genauso darf ich mich darüber lustig machen, was ich hiermit getan haben möchte. Haha!

Wörter bedeuten Dinge

Im wissenschaftlichen Betrieb, vor allem in den Geisteswissenschaften, ist es Usus, zu Beginn einer Arbeit zunächst sämtliche verwendeten Fachbegriffe zu definieren. Das ist oft nötig, da gebräuchliche Begriffe wie "System" oder "Information" je nach Kontext sehr allgemeine oder sehr präzise Dinge beschreiben können. Oft muss zum fehlerfreien Verständnis erläutert werden, auf welche Theorie, welches Modell, welche Literatur man sich bezieht, oder selbst eine Definition vornehmen. Im Alltag bleibt es nötig, sich auf die übliche Bedeutung zu beschränken oder sich umständlicher auszudrücken. Trotzdem entstehen viele Missverständnisse aus unterschiedlich verstandenen Begriffen, da nicht immer Einigkeit darüber besteht, was die übliche Bedeutung denn nun genau ist. Kommunikation kann überhaupt nur erfolgen, wenn wir Sprache gemeinsam benutzen, in Wechselwirkung von Sender und Empfänger, was wiederum erfordert, eine gemeinsam verstandene Ausgangsbasis zur Verfügung zu haben. Sich über Konventionen hinwegzusetzen, um Sprache zu verändern, kann also nur dann funktionieren, wenn man sich erklärt.

Das generische Maskulinum

Nun aber endlich zur Geschlechtergerechtigkeit: die deutsche Sprache ist durchsetzt von sprachlich manifestierter Ungleichheit. Nicht nur haben sämtliche Substantive im Deutschen ein Geschlecht, auch gibt es keine geschlechtsneutrale Einzahl, um Personen zu bezeichnen, keine Möglichkeit, Frauen und Männer gleichermaßen anzusprechen, wenn man Praktikanten sucht oder adressieren möchte. "Wir suchen einen Praktikanten" macht aus dem Gesuchten einen Mann, und "Liebe Praktikanten" spricht nur die Männer an, zumindest formal. De fakto sind, und das schon lange, Frauen in dieser Form grundsätzlich mitgemeint, der unbekannte Praktikant könnte ebenso eine Praktikantin sein und die Praktikantinnen werden kaum annehmen, das von ihnen nicht die Rede sei. Aber: es ist die männliche Form, die möglicherweise mitgemeinte Frauen unsichtbar macht. Wir haben hier ein Problem.

Markierte und unmarkierte Begriffe

Praktikantin ist ein markierter Begriff: er bezeichnet ganz spezifisch und ausschließlich eine Frau. Praktikant hingegen kann sowohl markiert ("Der Praktikant öffnete mir die Tür") als auch unmarkiert ("Das ist eine Aufgabe für einen Praktikanten") sein, wenn das Geschlecht der betreffenden Person nicht bekannt ist. Ein ähnliches Phänomen kann man anhand von Tag und Nacht beschreiben. Für sich genommen bezeichnen sie die Zeitspanne zwischen Sonnenauf- und Untergang bzw. umgekehrt, ein Tag kann jedoch außerdem beide auf einmal meinen, nämlich 24 Stunden. Die Bedeutung erschließt sich dann erst aus dem Kontext: "Ich habe den ganzen Tag Computer gespielt" lässt Raum für eine Nacht Schlaf, "In zwei Tagen muss ich die Hausarbeit abgeben" schließt zwei Nächte ein. Eine fünftägige Reise beinhaltet hingegen nur vier Nächte, und in Hotels werden gar die Tage in die Nächte eingeschlossen, wenn man ein Zimmer für drei Nächte bucht.

Das generische Femininum

Das Maskulinum ist also die unmarkierte Form, die je nach Kontext Frauen einschließen kann oder nicht. Um der daraus resultierenden mangelnden Sichtbarkeit von Frauen in der Sprache entgegenzuwirken, gibt es nun Bemühungen, das Femininum unmarkiert zu verwenden. Die Universität Leipzig hat das zum Beispiel getan - in jenen Fällen, in denen keine bestimmte Person, sondern eine Rolle bezeichnet wird, deren innehabende Person nicht bekannt ist und somit auch nicht ihr Geschlecht, verwendet sie die weibliche Form und meint die Männer damit mit. Die Presse reagierte darauf zunächst mit Überschriften wie "Herr Professorin" - eine Formulierung, die auf diese Weise natürlich nie zustandekäme, da das Geschlecht eines Herren ja durchaus bekannt ist und damit gar kein unmarkierter Begriff vonnöten ist. Auf Twitter gibt es das Projekt der "In-Woche", während der Teilnehmer für eine Woche das Femininum unmarkiert verwenden, und auch die Uni Potsdam benutzt in ihrer Geschäftsordnung das generische Femininum. Dessen Verwendung zeigt den sprachlich privilegierten Männern, wie es so ist, nur mitgemeint zu sein, und viele entrüstete Reaktionen ("Ich bin aber keine Bürgerin und will auch nicht so genannt werden und fühle mich davon nicht angesprochen") bestätigen nur die sprachliche Ungerechtigkeit, an die sich Frauen längst gewöhnt haben.

Andere Versuche geschlechtergerechter Sprache

Das generische Femininum ist natürlich ein radikales Konzept, das die Diskriminierung umkehrt und insofern als Brückentechnologie, politisches Statement und sprachfeministische Kampagne zu verstehen. Seine Etablierung würde nicht zu mehr Gerechtigkeit und Gleichheit führen, sondern illustriert nur das Problem. Ältere und bekanntere Maßnahmen sind die Beidnennung (Praktikantinnen und Praktikanten), das Binnen-I (PraktikantInnen), diverse Striche (Praktikant-in, Praktikant/in, Praktikant_in) und das Sternchen (Praktikant*in), das außerdem als Trans-Sternchen bekannt ist und Transsexuelle, Intersexuelle sowie Menschen nicht-binärer Geschlechtsidentität einschließt. Diesen Formen ist gemein, dass sie sich nicht mitsprechen lassen, also ausschließlich schriftlich existieren, und allenfalls durch bedeutungsschwangere Pausen oder ausgesprochene Interpunktion sprachlich zum Ausdruck gebracht werden können.

Pragmatische Bedenken

Nun kann man all diese Varianten verwenden, sich darüber streiten, welche gerechter ist und ob sie überhaupt nötig sind, Fakt bleibt, dass Sprache von allen gemacht wird, die sie verwenden, und sich die Mehrheit durchsetzt. Die Mehrheit sind in diesem Zusammenhang zwei verschiedene Mehrheiten: einerseits das, was "auf der Straße" gesprochen wird (darunter zählen übrigens auch Unterhaltungen in geschlossenen Räumen, freier Natur oder auf Bürgersteigen und Fußgängerzonen), und andererseits die förmliche Sprache in Beruf und Behörden - das, was in offiziellen Schriftstücken steht, was man in einer Bewerbung formulieren würde, in einer Rede oder einem Meeting. Die Beidnennung und das Binnen-I sind in der förmlichen Sprache bereits gut angekommen, privat begegnen sie einem aber selten. Das generische Femininum ist weiterhin eher unbekannt und wird nur in höchst ausgesuchten Kreisen verwendet, wo es allenfalls ein kleines Gegengewicht schafft.

Das Privileg des Maskulinum

Was das Gendern "auf der Straße" so unbeliebt macht, ist das eigentliche Privileg, das hinter dem generischen Maskulinum steht: es ist die Grundform, der Stamm eines Wortes. Jede Bemühung, geschlechtergerecht zu kommunizieren, erzeugt mehr Silben, mehr Buchstaben: also das, was die Alltagssprache zugunsten von "ähm" und "öh" und "weißte" und "Hammer, Alter!" wegrationalisiert. Umgangssprache schleift Endungen und Silben rund, verkürzt Begriffe, wo sie es kann, um dann möglichst bedeutungsarme Laute in Denkpausen einzuschieben. Das maskuline Privileg ist es, der Default-Begriff zu sein, die Kurzform, die Grundform, während alles Weibliche in einer längeren, speziellen Sonderform auf dem zweiten Platz landet. Was im Übrigen rein biologisch andersherum ist: die Grundform des Lebens ist weiblich, und erst mit der "Erfindung" der Geschlechter wurde eine zweite, abgewandelte Form, die männliche, eingeführt. Dieses Prinzip zieht sich bis zum Menschen durch: ein Mensch, der kein Testosteron erhält, entwickelt sich phänotypisch zur Frau, unabhängig von den Chromosomen, die er besitzt. Gesellschaftlich werden Frauen aber immer noch als Sonderform des Männlichen angesehen - ein Strichmännchen ist ein Mann, bis man lange Haare dazuzeichnet oder Brüste, antropomorphe Spielfiguren sind männlich, solange sie nicht durch Kleider, pinke Farbe oder Lippenstift und Wimpern als weiblich gekennzeichnet werden und zuguterletzt ist jeder Wortstamm einer Personenbezeichnung zugleich die männliche Form, die mit einem -in versehen werden muss, um sie weiblich zu machen.

Gendern auf englisch

Was die englische Sprache an dieser Stelle tut ist perfide: sie ermöglicht ein Gendern gar nicht erst. "The intern opened the door" ist ein unübersetzbares Mysterium, das erst Auflösung erhält, wenn der Praktikant wichtig genug für einen zweiten Satz ist, indem aus der Rollenbezeichnung dann ein "he" oder "she" werden könnte. Und selbst dann gibt es für einen Praktikanten, dessen Geschlecht man nicht kennt, noch einen netten kleinen Trick: das singuläre they. Einst üblich, ist es in der Versenkung versunken und in Vergessenheit geraten, erlebt aber eine Renaissance, die durchaus erfolgversprechend ist - im Gegensatz zu vielen, nur in kleinsten Kreisen akzeptierten Versuchen, neue Pronomen zu etablieren - Versuche, wie es sie auch hierzulande gibt und von denen die Wenigsten auch nur gehört haben.

Ein versuchtes Fazit

Ich mag meine Sprache, und der deutsche Hang allem immer ein Geschlecht zuzuweisen ist durch Wünschen allein nicht zu entfernen. Auch kann ich kaum als neutral gelten, da das generische Maskulinum mir immer ermöglicht hat, meine fehlende Geschlechtsidentität hinter scheinbar unmarkierten Begriffen zu verstecken. Aber geht es im Feminismus nicht darum, den Standard, den Default, für Frauen zu öffnen? Als Frauen Wahlrecht gefordert haben, wurden da Wahlkabinen für Frauen gebaut, und ein Frauenparlament? Ging es nicht immer darum, Privilegien abzubauen, indem das Privileg für alle geöffnet wurde und damit kein Privileg mehr war? Statt sich mit einem speziellen Extra-Wort nur für Frauen zufriedenzugeben wie mit einem Trostpreis oder einer Teilnehmerurkunde, können wir das -in nicht einfach ganz abschaffen?
Ich bin nicht so naiv, wie das klingt; ich weiß, das es nie so einfach geht, und dass die Unsichtbarkeit von Frauen aus der Sprache so nicht verschwinden wird. Man wird sich immer noch zuerst einen jungen Mann vorstellen, wenn man Praktikant sagt. Aber je öfter man überrascht wird, desto eher verschwindet die maskuline Konnotation der Grundform. Wäre das nicht schön? Und ja: hätten wir Frauenwahlkabinen und Frauenparlamente eröffnet, der Anteil weiblicher Politiker wäre nicht bis heute so erschreckend niedrig. Der Sprache wird es kaum anders gehen. (An dieser Stelle mein Lieblingssprachwitz: Sitzen zwei Homosexuelle im Flugzeug. Sagt die eine zur anderen: "Bestimmt haben sich jetzt alle zwei Schwule vorgestellt." Antwortet die Copilotin: "Und sicher halten sie uns für Passagiere.")

Für mich bedeutet Feminismus, Frauen und Männer nicht zu trennen, sondern zu Menschen zusammenzufassen. Und das Vorrecht auf die sprachliche Grundform nicht den Männern zu überlassen und mit einem extra, extra für uns gemachten -in zurückzubleiben.

Anmerkungen: ich spreche im letzten Satz vorübergehend als Frau. Ich bitte alle Frauen dieser Welt um Verzeihung.
Dieser Text soll generisches Femininum, Beidnennung, Binnen-I, Sternchen und alle anderen Bemühungen um geschlechtergerechte Sprache nicht abwerten. Ich sympathisiere. Nicht hauen.


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