Ein zeitgemäßeres Bildungssystem
1. Der Unterricht beginnt viel zu früh.
Dass dies an erster Stelle kommt, hat mehr mit meiner Veranlagung als schlafgestörte Nachteule zu tun als mit der Priorität, die ich für andere sehe. Fakt bleibt aber, dass Schlafforscher, Neurologen, Ärzte schon lange gleichermaßen über den frühen Unterrichtsbeginn klagen. Zwar gibt es im Schlafrhythmus individuelle Unterschiede und kann man sich auf frühe Aufstehzeiten üblicherweise durch schlafhygienische Maßnahmen (das heißt wirklich so und bedeutet: früh ins Bett gehen, Tagesablauf strukturieren, sich tagsüber bewegen und Einschlaf- und Aufstehroutinen entwickeln) einstellen, ein dauerhaft dem Biorhythmus nicht entsprechender Tagesablauf macht aber krank, unkonzentriert und führt nicht gerade dazu, dass Schüler gern zur Schule gehen. Mit Eintritt in die Pubertät verändern sich auch die Schlafgewohnheiten - dass Jugendliche überproportional Langschläfer sind, ist hinreichend belegt (oft bildet sich das wieder zurück - "wächst sich" also "raus" - allerdings nicht vor Ende des Schulalters).2. Klassenverbände.
Klassenverbände sollen eine Bezugsgruppe für Schüler bilden, das sehe ich ein. Schule ist auch kein Einzelunterricht, schon allein daher müssen Schüler in Gruppen zusammengefasst werden. Das Konzept des starren, unveränderlichen Klassenverbands ist darauf ausgelegt, Schüler in Gruppendynamikprozesse einzubinden zur Entwicklung von Sozialkompetenzen. Wie gut das funktioniert, zeigen Mobbingstatistiken. Um ein tatsächliches "Wir"-Gefühl zu erzeugen, das alle einbezieht, reicht das Setzen in einen Klassenraum und die Ausrichtung einer Klassenfahrt alle paar Jahre jedoch nicht aus. Man wird blind in eine Gruppe geworfen mit Menschen, die zufällig aus der gleichen Gegend im gleichen Alter sind - ich finde das keine ausreichende Begründung, um der Klasse als solche so viel Bedeutung beizumessen, wie es getan wird. An Grundschulen setzen sich jahrgangsübergreifende Klassen langsam durch - der starre, unantastbare Klassenverband an weiterführenden Schulen bleibt jedoch bestehen. Das muss nicht heißen, dass dauerhafte Jahrgangsmischung der Weg zu Weltfrieden und ewigem Glück ist, sondern kann auch durch Mischformen und Kursunterricht erreicht werden.3. "Und wozu muss ich das jetzt wissen?"
Bildungsinhalte sind oft stark entkoppelt von ihrer reellen Anwendung. Oft wird auf blindes Auswendiglernen statt auf die Vermittlung von Fähigkeiten und das Verständnis von Konzepten gesetzt. Ich erinnere mich gut an einen Biologietest zu Genetik, in dem Punkte für Fragen wie "In welchem Jahr trat Darwin seine Seereise an, wie hieß das Schiff und auf welchen Inseln machte er seine Beobachtungen an Finken?" vergeben wurden. Solche Informationen sagen nichts über meinen Wissensstand, sondern ausschließlich über meine Gedächtnisleistung. Darüber hinaus haben sie auch nichts mit Biologie zu tun und sind jederzeit nachschlagbar. Natürlich können die Lehrpläne erst einmal nichts für die Testfragen meiner damaligen Biologielehrerin, dieses Verhalten ist aber kein Einzelfall. Übervolle Lehrpläne fordern zum Einpauken auf, nicht zum Verstehen.4. "Das brauch ich doch nie wieder!"
Allgemeinbildung ist eine schöne Sache - wenn es jedoch um Spezialwissen geht, das kaum jemand über die Schule hinaus behält, geschweige denn anwendet, sollte überlegt werden, es aus dem Pflichtlehrplan zu streichen. Mehr Auswahl in Lerninhalten, eine generell flexiblere Gestaltung von Schule könnte verhindern, dass sich zukünftige Übersetzer mit Integralrechnungen und zukünftige Ingenieure mit einer zweiten Fremdsprache herumschlagen müssen. Diese Dinge gehören unbedingt in das Angebot der Schulen - aber sind sie wirklich unerlässlich für jeden, der ein Studium anstrebt, egal in welchem Bereich? Natürlich sollte eine solide Grundbildung vermittelt werden, in jeder Schulform und in jedem Fach, aber Lehrpläne schießen über dieses Ziel oft hinaus (nicht nur durch die Inhalte, auch durch das Ausmaß, in dem sie in die Tiefe gehen), mit dem Ergebnis, dass ein Großteil des vermittelten Wissens schnellstmöglich wieder vergessen wird, um Platz für die nächsten Inhalte zu schaffen.5. Mangelnde Flexibilität
Viele Ansätze zur Integration von "Problemkindern", seien es sozial schwache, lernbehinderte, körperbehinderte, Schulverweigerer, Hochbegabte, Nichtmuttersprachler oder Teilleistungsschwache, gehen davon aus, dass es sich (jeweils) um Einzelfälle handele, die in eine "normale" Klasse zu integrieren sind. Nicht nur sammeln sich Sonderfälle jeglicher Art in sozialen Brennpunkten, auch die allgemeine Verteilung von Kindern mit besonderen Bedürfnisse wird unterschätzt. Zählen wir die oben aufgeführten Gruppen mal zusammen, kommen wir zum Schluss, dass mit so ziemlich jedem Kind irgend etwas nicht stimmt, und unter den Gruppen gibt es auch noch Überlappungen. Die "normalen" Schüler, die die "schwierigen" ausgleichen sollen, gibt es nicht, jedenfalls nicht in einer beliebig belastbaren unerschöpflichen Menge. Das System selbst muss in der Lage sein, auf Andersartigkeit einzugehen, anstatt zu hoffen, dass der Lehrer und Klassenverband das Kind schon irgendwie ins übliche Muster gepresst bekommen.Die Lösung: Vollverkursung
Genug gejammert: auf die meisten dieser Schwierigkeiten gibt es eine einfache Antwort: die Einführung eines Kurssystems. Was ist das? Jedes Fach in jeder Klassenstufe stellt einen Kurs dar. Es gibt Pflicht- und Wahlkurse, und nicht alle Schüler einer Klasse müssen die gleichen Kurse besuchen. An gymnasialen Oberstufen wird dieses System zum Teil verwendet, in anderen Schulformen gibt es, wenn's hochkommt, vielleicht ein Wahlpflichtfach, bei dem man eine Auswahl hat.Warum wäre das gut? Da wären zunächst einmal die Klassenverbände: Schüler lernen schneller und besser in homogenen, entwickeln aber besseres Sozialverhalten in heterogenen Gruppen. Eine Verkursung eröffnet hier Möglichkeiten, beides zu bieten: Besonders in den Kernfächern könnten die Schüler nach Leistungsniveau eingeteilt werden, sind aber in anderen und für Klassenveranstaltungen in ihrer heterogenen Gruppe eingebunden. Schüler mit Teilleistungsschwächen oder Teilbegabungen können ihr Potential ausschöpfen, ohne auf allen anderen Gebieten unter- oder überfordert zu werden. Auf besondere Bedürfnisse kann schon strukturell eingegangen werden - die Schule muss nicht mehr ausschließlich um den Sonderbedarf "drumherumarbeiten". Das kann Lehrern sehr viel Arbeit ersparen und wirkt der Ausgrenzung von Einzelnen entgegen. Ein Kurssystem könnte den Weg freimachen für flexiblen, individuellen Unterricht bei gleichbleibendem Aufwand für Lehrer und Verwaltung.
Bislang lässt sich der Unterricht für Einzelne nur durch Wechsel der Schulform, Sitzenbleiben, Überspringen von Klassen oder durch Nachhilfeunterricht anpassen. Angemessene Förderung gibt es nur in Spezialklassen oder außerschulischen Extrastunden. Das kann sich ändern.
Ich will nun nicht zu viel auf einmal fordern, aber die Möglichkeiten gehen noch weiter: ein langsamer Lerner könnte im Jahr weniger Kurse besuchen und durch Verlängerung der Gesamtschulzeit trotzdem einen guten Bildungsabschluss erreichen. Das ist auch für Schüler wichtig, die besonderen außerschulischen Stress haben, z.B. durch Leistungssport - das CJD in Rostock z.B. verfügt über einen Sportlerförderzweig, der in neun Jahren statt acht zum Abitur führt und den Sportlern dadurch ermöglicht, ihren Trainingsplan einzuhalten und zu Wettbewerben zu fahren, ohne auf einen guten Bildungsabschluss verzichten zu müssen.
Auch der zweite Bildungsweg könnte dadurch mit deutlich weniger Hürden verbunden sein - es wäre möglich, Leistungen in einzelnen Fächern nachzuholen und so seinen gewünschten Bildungsabschluss zu erlangen, ohne Jahre der Wiederholung auf sich zu nehmen.
In meiner Wunschvorstellung ist jeder belegte Kurs in jedem Jahr oder Semester eine Art Abschluss - Arbeitgeber könnten statt nach Abitur zum Beispiel nach bestimmten Kursen in bestimmten Fächern fragen, einzelne Fächer hätten ebenso bestimmte Zugangsvorraussetzungen (Physik 8 erfordert Mathematik 5, oder Ähnliches). Die jeweiligen Inhalte könnte man auch in unterschiedlichen Geschwindigkeiten vermitteln - es könnte einen Physik-8-Kurs halbjährig oder ganzjährig geben, so dass ein schneller Lerner seinen Bildungsabschluss früher erreichen könnte, ohne dass die erforderlichen Stunden seine gesamte Freizeit verschlingen. Das ist allerdings Zukunftsmusik und muss an anderer Stelle erläutert werden.
Wichtig ist: Es sollte möglich sein, unterschiedliche Fächer auf unterschiedlichen Leistungsniveaus zu belegen. Denn dass unser dreigliedriges Schulsystem in der Praxis stärker nach sozialer Herkunft als nach den Fähigkeiten der Schüler sortiert, ist leider umfassend untersucht und bekannt. Auch wandern sehr viel mehr Schüler von einer höheren Schulform in eine niedrigere als umgekehrt. Wenn man die Schwellen für die Anpassung von Lernzielen auf den einzelnen Schüler senkt, kann man hier vielleicht entgegenwirken. Selbst das Wiederholen ganzer Klassen würden unnötig, ohne dass Schüler in einzelnen Fächern komplett den Anschluss verlieren, weil zu viele Grundlagen fehlen.