Ich bin der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ich würde sogar soweit gehen, zu sagen, dass ich das Zentrum des von mir wahrgenommenen Universums bilde. Ich denke auch, das ist weder eitel noch arrogant, sondern normal. Nun geht das aber vermutlich nur mir so. Ich kann nicht von anderen erwarten, mich im Zentrum ihres Lebens zu sehen, denn da steht üblicherweise schon jemand anderes - sie selbst. Das bedeutet aber auch, dass vermutlich niemand so viel über mich und Dinge, die mich betreffen, nachdenkt wie ich. Daher unterstelle ich üblicherweise Unabsichtlichkeit.
Wenn beim Pizzaessen in einer Gruppe kein Stück meiner Lieblingspizza übrig bleibt, weil ich auf Toilette war, als die Pizza ankam, dann könnte ich annehmen, dass mir die anderen nichts gönnen, oder mich ärgern wollten, oder IHR SCHWEINE IHR WISST DOCH DASS ICH THUNFISCH MAG! Tatsächlich aber ist die wahrscheinlichste Antwort Unabsichtlichkeit. Vermutlich hat niemand an meine speziellen Vorlieben gedacht. Noch wahrscheinlicher: mein Lieblingsessen ist für niemanden außer mich sonderlich relevant - selbst wenn ich Präferenzen erwähnt habe, wird sich kaum jemand daran erinnern. Vielleicht lag die Thunfischpizza obenauf.
Insgesamt gehe ich glücklicher durchs Leben, wenn ich pauschal erst einmal Unabsichtlichkeit unterstelle, weil ich mich dann nur über doofe Pizza und nicht über wahrgenommenes Mobbing ärgern muss, unabhängig davon, was tatsächlich die Gründe für meine Thunfischlosigkeit waren. Auch ist unterstellte Unabsichtlichkeit eine gute Denkübung: man sollte von jeder Sache, die wert ist, betrachtet zu werden, nach mehreren Erklärungsmöglichkeiten suchen. Das gilt nicht nur für Pizza.
Verschwörungstheorien haben gegenüber anderen Theorien (eher: Hypothesen) einige Alleinstellungsmerkmale. Zum einen werden Gegenbeweise als Argumente *für* die Theorie ausgelegt (dass die Presse nicht von Aliens unter uns berichtet, ist ein Beweis dafür, dass die Aliens die Presse kontrollieren, und nicht etwa dafür, dass es sie nicht gibt (die Aliens, nicht die Presse)). Weiterhin ist in der Regel jemand schuld (die CIA! Die Juden! Die Bilderberg-Konferenz!) - das bedient vor allem Wunschdenken und macht es angenehm, daran zu glauben. Und zu guter Letzt gibt eine gute Verschwörungstheorie eine einleuchtende, in sich geschlossene Erklärung, die haarsträubend unnötig kompliziert ist.
Ockhams Rasiermesser (auch: Prinzip der Parsimonie) besagt, dass die einfachste Erklärung (die, die mit den wenigsten Variablen und Grundannahmen auskommt) die wahrscheinlichere ist. Unterstellen wir grundsätzlich Unabsichtlichkeit, lassen sich die meisten Vorgänge mit einem einfachen "das ist von ganz allein so passiert" erklären - wobei "von ganz allein" nicht mit "zufällig" gleichzusetzen ist. Denn dass die Thunfischpizza zuerst alle ist, muss kein Zufall sein - möglicherweise ist es die einzige, die nicht angebrannt ist, oder es handelt sich bei Thunfisch allgemein um einen überlegenen Geschmack (meine bevorzugte Hypothese). Aber äußerst unwahrscheinlich ist, dass sich Menschen, die ich immerhin genug mag, um Pizza mit ihnen zu teilen, sich gegen mich verschworen haben, oder dass einzelne Fadenzieher im Hintergrund mein Pizzageschick lenken.
Wer glaubt, dass es einen Schuldigen braucht, um gesellschaftliche Phänomene zu erklären, spricht nicht nur den Individuen, die an ihnen beteiligt sind, ihre Agenda ab, sondern ist vor allem eins: unkreativ. Alles, was getan wird, ergibt für den, der es tut, in dem Augenblick, in dem es getan wird, einen Sinn. Dieser Sinn bezieht sich aber auf die handelnde Person, nicht auf den Außenstehenden, auf den das Handeln einen Einfluss hat. Ergo: Wer meine Thunfischpizza isst, denkt dabei an seinen eigenen Appetit, und nicht an meinen. Die Unfähigkeit, über den Tellerrand (höhö) zu blicken, lässt den Betrachter zu falschen Schlüssen gelangen, wenn er die Wichtigkeit, die er für sich selbst hat, auch anderen unterstellt.
Verschwörungstheorien beinhalten fast ausnahmslos unterstellte Absicht. Dahinter verbergen sich in der Regel mehrere Gedanken. Zum einen: "Da steckt noch mehr dahinter!" - der Unglaube, dass individuelle, voneinander unabhängige Prozesse zu einem Ergebnis geführt haben. Zum anderen: "Das richtet sich gegen mich/uns alle/jemanden!" - der Gedanke, dass man selbst eine Rolle spielt im Entscheidungsprozess anderer.
Ich komme zu dem Schluss, dass Wahnideen sich (unter anderem) auf Eitelkeit stützen. Wenn jemand erklärt, dass einzelne Menschen viel Mühe auf sich genommen haben, um andere Menschen zu beeinflussen, Dinge zu tun, die wiederum anderen Menschen schaden, obwohl es genug Gründe gibt, aus denen diese anderen Menschen diese Dinge ohnehin hätten tun wollen, dann möchte ich ihn gerne in den Arm nehmen und sagen: "Du bist wichtig. Ich denke an dich." Vielleicht hilft's ja.