Das Klaus

Gesammelte Werke

16.03.2013

Ein zeitgemäßeres Bildungssystem

Denke ich so an meine Schulzeit zurück, fallen mir eine Reihe Kritikpunkte wieder ein, die über ein pubertäres "Schule ist doof" hinausgehen und die ich heute noch unterschreiben könnte. Sie bilden für mich die Grundlage auf der ich nach anderen Lösungen suche, da ich als Lehrerkind eigentlich immer versucht habe, Schule zu mögen. Es ist mir nicht gelungen. Das liegt zum Teil natürlich auch an spezifischen Umständen (Lehrern, Mitschülern, oh, was sind denn das für Hormone plötzlich?), aber zum Teil auch an externen Gegebenheiten, die ich als Design-Fehler betrachte.

1. Der Unterricht beginnt viel zu früh.

Dass dies an erster Stelle kommt, hat mehr mit meiner Veranlagung als schlafgestörte Nachteule zu tun als mit der Priorität, die ich für andere sehe. Fakt bleibt aber, dass Schlafforscher, Neurologen, Ärzte schon lange gleichermaßen über den frühen Unterrichtsbeginn klagen. Zwar gibt es im Schlafrhythmus individuelle Unterschiede und kann man sich auf frühe Aufstehzeiten üblicherweise durch schlafhygienische Maßnahmen (das heißt wirklich so und bedeutet: früh ins Bett gehen, Tagesablauf strukturieren, sich tagsüber bewegen und Einschlaf- und Aufstehroutinen entwickeln) einstellen, ein dauerhaft dem Biorhythmus nicht entsprechender Tagesablauf macht aber krank, unkonzentriert und führt nicht gerade dazu, dass Schüler gern zur Schule gehen. Mit Eintritt in die Pubertät verändern sich auch die Schlafgewohnheiten - dass Jugendliche überproportional Langschläfer sind, ist hinreichend belegt (oft bildet sich das wieder zurück - "wächst sich" also "raus" - allerdings nicht vor Ende des Schulalters).

2. Klassenverbände.

Klassenverbände sollen eine Bezugsgruppe für Schüler bilden, das sehe ich ein. Schule ist auch kein Einzelunterricht, schon allein daher müssen Schüler in Gruppen zusammengefasst werden. Das Konzept des starren, unveränderlichen Klassenverbands ist darauf ausgelegt, Schüler in Gruppendynamikprozesse einzubinden zur Entwicklung von Sozialkompetenzen. Wie gut das funktioniert, zeigen Mobbingstatistiken. Um ein tatsächliches "Wir"-Gefühl zu erzeugen, das alle einbezieht, reicht das Setzen in einen Klassenraum und die Ausrichtung einer Klassenfahrt alle paar Jahre jedoch nicht aus. Man wird blind in eine Gruppe geworfen mit Menschen, die zufällig aus der gleichen Gegend im gleichen Alter sind - ich finde das keine ausreichende Begründung, um der Klasse als solche so viel Bedeutung beizumessen, wie es getan wird. An Grundschulen setzen sich jahrgangsübergreifende Klassen langsam durch - der starre, unantastbare Klassenverband an weiterführenden Schulen bleibt jedoch bestehen. Das muss nicht heißen, dass dauerhafte Jahrgangsmischung der Weg zu Weltfrieden und ewigem Glück ist, sondern kann auch durch Mischformen und Kursunterricht erreicht werden.

3. "Und wozu muss ich das jetzt wissen?"

Bildungsinhalte sind oft stark entkoppelt von ihrer reellen Anwendung. Oft wird auf blindes Auswendiglernen statt auf die Vermittlung von Fähigkeiten und das Verständnis von Konzepten gesetzt. Ich erinnere mich gut an einen Biologietest zu Genetik, in dem Punkte für Fragen wie "In welchem Jahr trat Darwin seine Seereise an, wie hieß das Schiff und auf welchen Inseln machte er seine Beobachtungen an Finken?" vergeben wurden. Solche Informationen sagen nichts über meinen Wissensstand, sondern ausschließlich über meine Gedächtnisleistung. Darüber hinaus haben sie auch nichts mit Biologie zu tun und sind jederzeit nachschlagbar. Natürlich können die Lehrpläne erst einmal nichts für die Testfragen meiner damaligen Biologielehrerin, dieses Verhalten ist aber kein Einzelfall. Übervolle Lehrpläne fordern zum Einpauken auf, nicht zum Verstehen.

4. "Das brauch ich doch nie wieder!"

Allgemeinbildung ist eine schöne Sache - wenn es jedoch um Spezialwissen geht, das kaum jemand über die Schule hinaus behält, geschweige denn anwendet, sollte überlegt werden, es aus dem Pflichtlehrplan zu streichen. Mehr Auswahl in Lerninhalten, eine generell flexiblere Gestaltung von Schule könnte verhindern, dass sich zukünftige Übersetzer mit Integralrechnungen und zukünftige Ingenieure mit einer zweiten Fremdsprache herumschlagen müssen. Diese Dinge gehören unbedingt in das Angebot der Schulen - aber sind sie wirklich unerlässlich für jeden, der ein Studium anstrebt, egal in welchem Bereich? Natürlich sollte eine solide Grundbildung vermittelt werden, in jeder Schulform und in jedem Fach, aber Lehrpläne schießen über dieses Ziel oft hinaus (nicht nur durch die Inhalte, auch durch das Ausmaß, in dem sie in die Tiefe gehen), mit dem Ergebnis, dass ein Großteil des vermittelten Wissens schnellstmöglich wieder vergessen wird, um Platz für die nächsten Inhalte zu schaffen.

5. Mangelnde Flexibilität

Viele Ansätze zur Integration von "Problemkindern", seien es sozial schwache, lernbehinderte, körperbehinderte, Schulverweigerer, Hochbegabte, Nichtmuttersprachler oder Teilleistungsschwache, gehen davon aus, dass es sich (jeweils) um Einzelfälle handele, die in eine "normale" Klasse zu integrieren sind. Nicht nur sammeln sich Sonderfälle jeglicher Art in sozialen Brennpunkten, auch die allgemeine Verteilung von Kindern mit besonderen Bedürfnisse wird unterschätzt. Zählen wir die oben aufgeführten Gruppen mal zusammen, kommen wir zum Schluss, dass mit so ziemlich jedem Kind irgend etwas nicht stimmt, und unter den Gruppen gibt es auch noch Überlappungen. Die "normalen" Schüler, die die "schwierigen" ausgleichen sollen, gibt es nicht, jedenfalls nicht in einer beliebig belastbaren unerschöpflichen Menge. Das System selbst muss in der Lage sein, auf Andersartigkeit einzugehen, anstatt zu hoffen, dass der Lehrer und Klassenverband das Kind schon irgendwie ins übliche Muster gepresst bekommen.

Die Lösung: Vollverkursung

Genug gejammert: auf die meisten dieser Schwierigkeiten gibt es eine einfache Antwort: die Einführung eines Kurssystems. Was ist das? Jedes Fach in jeder Klassenstufe stellt einen Kurs dar. Es gibt Pflicht- und Wahlkurse, und nicht alle Schüler einer Klasse müssen die gleichen Kurse besuchen. An gymnasialen Oberstufen wird dieses System zum Teil verwendet, in anderen Schulformen gibt es, wenn's hochkommt, vielleicht ein Wahlpflichtfach, bei dem man eine Auswahl hat.
Warum wäre das gut? Da wären zunächst einmal die Klassenverbände: Schüler lernen schneller und besser in homogenen, entwickeln aber besseres Sozialverhalten in heterogenen Gruppen. Eine Verkursung eröffnet hier Möglichkeiten, beides zu bieten: Besonders in den Kernfächern könnten die Schüler nach Leistungsniveau eingeteilt werden, sind aber in anderen und für Klassenveranstaltungen in ihrer heterogenen Gruppe eingebunden. Schüler mit Teilleistungsschwächen oder Teilbegabungen können ihr Potential ausschöpfen, ohne auf allen anderen Gebieten unter- oder überfordert zu werden. Auf besondere Bedürfnisse kann schon strukturell eingegangen werden - die Schule muss nicht mehr ausschließlich um den Sonderbedarf "drumherumarbeiten". Das kann Lehrern sehr viel Arbeit ersparen und wirkt der Ausgrenzung von Einzelnen entgegen. Ein Kurssystem könnte den Weg freimachen für flexiblen, individuellen Unterricht bei gleichbleibendem Aufwand für Lehrer und Verwaltung.
Bislang lässt sich der Unterricht für Einzelne nur durch Wechsel der Schulform, Sitzenbleiben, Überspringen von Klassen oder durch Nachhilfeunterricht anpassen. Angemessene Förderung gibt es nur in Spezialklassen oder außerschulischen Extrastunden. Das kann sich ändern.
Ich will nun nicht zu viel auf einmal fordern, aber die Möglichkeiten gehen noch weiter: ein langsamer Lerner könnte im Jahr weniger Kurse besuchen und durch Verlängerung der Gesamtschulzeit trotzdem einen guten Bildungsabschluss erreichen. Das ist auch für Schüler wichtig, die besonderen außerschulischen Stress haben, z.B. durch Leistungssport - das CJD in Rostock z.B. verfügt über einen Sportlerförderzweig, der in neun Jahren statt acht zum Abitur führt und den Sportlern dadurch ermöglicht, ihren Trainingsplan einzuhalten und zu Wettbewerben zu fahren, ohne auf einen guten Bildungsabschluss verzichten zu müssen.
Auch der zweite Bildungsweg könnte dadurch mit deutlich weniger Hürden verbunden sein - es wäre möglich, Leistungen in einzelnen Fächern nachzuholen und so seinen gewünschten Bildungsabschluss zu erlangen, ohne Jahre der Wiederholung auf sich zu nehmen.
In meiner Wunschvorstellung ist jeder belegte Kurs in jedem Jahr oder Semester eine Art Abschluss - Arbeitgeber könnten statt nach Abitur zum Beispiel nach bestimmten Kursen in bestimmten Fächern fragen, einzelne Fächer hätten ebenso bestimmte Zugangsvorraussetzungen (Physik 8 erfordert Mathematik 5, oder Ähnliches). Die jeweiligen Inhalte könnte man auch in unterschiedlichen Geschwindigkeiten vermitteln - es könnte einen Physik-8-Kurs halbjährig oder ganzjährig geben, so dass ein schneller Lerner seinen Bildungsabschluss früher erreichen könnte, ohne dass die erforderlichen Stunden seine gesamte Freizeit verschlingen. Das ist allerdings Zukunftsmusik und muss an anderer Stelle erläutert werden.
Wichtig ist: Es sollte möglich sein, unterschiedliche Fächer auf unterschiedlichen Leistungsniveaus zu belegen. Denn dass unser dreigliedriges Schulsystem in der Praxis stärker nach sozialer Herkunft als nach den Fähigkeiten der Schüler sortiert, ist leider umfassend untersucht und bekannt. Auch wandern sehr viel mehr Schüler von einer höheren Schulform in eine niedrigere als umgekehrt. Wenn man die Schwellen für die Anpassung von Lernzielen auf den einzelnen Schüler senkt, kann man hier vielleicht entgegenwirken. Selbst das Wiederholen ganzer Klassen würden unnötig, ohne dass Schüler in einzelnen Fächern komplett den Anschluss verlieren, weil zu viele Grundlagen fehlen.
07.03.2013

Ockhams Rasiermesser, oder: Von Absichten und ihrer Seltenheit

Ich bin der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ich würde sogar soweit gehen, zu sagen, dass ich das Zentrum des von mir wahrgenommenen Universums bilde. Ich denke auch, das ist weder eitel noch arrogant, sondern normal. Nun geht das aber vermutlich nur mir so. Ich kann nicht von anderen erwarten, mich im Zentrum ihres Lebens zu sehen, denn da steht üblicherweise schon jemand anderes - sie selbst. Das bedeutet aber auch, dass vermutlich niemand so viel über mich und Dinge, die mich betreffen, nachdenkt wie ich. Daher unterstelle ich üblicherweise Unabsichtlichkeit.

Wenn beim Pizzaessen in einer Gruppe kein Stück meiner Lieblingspizza übrig bleibt, weil ich auf Toilette war, als die Pizza ankam, dann könnte ich annehmen, dass mir die anderen nichts gönnen, oder mich ärgern wollten, oder IHR SCHWEINE IHR WISST DOCH DASS ICH THUNFISCH MAG! Tatsächlich aber ist die wahrscheinlichste Antwort Unabsichtlichkeit. Vermutlich hat niemand an meine speziellen Vorlieben gedacht. Noch wahrscheinlicher: mein Lieblingsessen ist für niemanden außer mich sonderlich relevant - selbst wenn ich Präferenzen erwähnt habe, wird sich kaum jemand daran erinnern. Vielleicht lag die Thunfischpizza obenauf.
Insgesamt gehe ich glücklicher durchs Leben, wenn ich pauschal erst einmal Unabsichtlichkeit unterstelle, weil ich mich dann nur über doofe Pizza und nicht über wahrgenommenes Mobbing ärgern muss, unabhängig davon, was tatsächlich die Gründe für meine Thunfischlosigkeit waren. Auch ist unterstellte Unabsichtlichkeit eine gute Denkübung: man sollte von jeder Sache, die wert ist, betrachtet zu werden, nach mehreren Erklärungsmöglichkeiten suchen. Das gilt nicht nur für Pizza.

Verschwörungstheorien haben gegenüber anderen Theorien (eher: Hypothesen) einige Alleinstellungsmerkmale. Zum einen werden Gegenbeweise als Argumente *für* die Theorie ausgelegt (dass die Presse nicht von Aliens unter uns berichtet, ist ein Beweis dafür, dass die Aliens die Presse kontrollieren, und nicht etwa dafür, dass es sie nicht gibt (die Aliens, nicht die Presse)). Weiterhin ist in der Regel jemand schuld (die CIA! Die Juden! Die Bilderberg-Konferenz!) - das bedient vor allem Wunschdenken und macht es angenehm, daran zu glauben. Und zu guter Letzt gibt eine gute Verschwörungstheorie eine einleuchtende, in sich geschlossene Erklärung, die haarsträubend unnötig kompliziert ist.

Ockhams Rasiermesser (auch: Prinzip der Parsimonie) besagt, dass die einfachste Erklärung (die, die mit den wenigsten Variablen und Grundannahmen auskommt) die wahrscheinlichere ist. Unterstellen wir grundsätzlich Unabsichtlichkeit, lassen sich die meisten Vorgänge mit einem einfachen "das ist von ganz allein so passiert" erklären - wobei "von ganz allein" nicht mit "zufällig" gleichzusetzen ist. Denn dass die Thunfischpizza zuerst alle ist, muss kein Zufall sein - möglicherweise ist es die einzige, die nicht angebrannt ist, oder es handelt sich bei Thunfisch allgemein um einen überlegenen Geschmack (meine bevorzugte Hypothese). Aber äußerst unwahrscheinlich ist, dass sich Menschen, die ich immerhin genug mag, um Pizza mit ihnen zu teilen, sich gegen mich verschworen haben, oder dass einzelne Fadenzieher im Hintergrund mein Pizzageschick lenken.

Wer glaubt, dass es einen Schuldigen braucht, um gesellschaftliche Phänomene zu erklären, spricht nicht nur den Individuen, die an ihnen beteiligt sind, ihre Agenda ab, sondern ist vor allem eins: unkreativ. Alles, was getan wird, ergibt für den, der es tut, in dem Augenblick, in dem es getan wird, einen Sinn. Dieser Sinn bezieht sich aber auf die handelnde Person, nicht auf den Außenstehenden, auf den das Handeln einen Einfluss hat. Ergo: Wer meine Thunfischpizza isst, denkt dabei an seinen eigenen Appetit, und nicht an meinen. Die Unfähigkeit, über den Tellerrand (höhö) zu blicken, lässt den Betrachter zu falschen Schlüssen gelangen, wenn er die Wichtigkeit, die er für sich selbst hat, auch anderen unterstellt.

Verschwörungstheorien beinhalten fast ausnahmslos unterstellte Absicht. Dahinter verbergen sich in der Regel mehrere Gedanken. Zum einen: "Da steckt noch mehr dahinter!" - der Unglaube, dass individuelle, voneinander unabhängige Prozesse zu einem Ergebnis geführt haben. Zum anderen: "Das richtet sich gegen mich/uns alle/jemanden!" - der Gedanke, dass man selbst eine Rolle spielt im Entscheidungsprozess anderer.

Ich komme zu dem Schluss, dass Wahnideen sich (unter anderem) auf Eitelkeit stützen. Wenn jemand erklärt, dass einzelne Menschen viel Mühe auf sich genommen haben, um andere Menschen zu beeinflussen, Dinge zu tun, die wiederum anderen Menschen schaden, obwohl es genug Gründe gibt, aus denen diese anderen Menschen diese Dinge ohnehin hätten tun wollen, dann möchte ich ihn gerne in den Arm nehmen und sagen: "Du bist wichtig. Ich denke an dich." Vielleicht hilft's ja.
09.06.2010

Jetzt mit 20% mehr Hirn! Oder: Von Kunden, Königen und Marktwirtschaft

Wodurch sich Wohnungen und Joghurt voneinander unterscheiden und wie der freie Markt sich selbst die Krone aufsetzt.

Sie sind jung. Oder auch nicht. Sie sind vielleicht gebildet, zumindest ein bisschen. Sie sind erfolgreich, oder wollen es sein. Sie sind einigermaßen schön. Sie sind herzlich eingeladen. Sie sind Deutschland. Sie sind doch nicht blöd.

Aber vor allem: Sie sind Zielgruppe. Sie sind Konsument. Sie sind Kunde. Und Sie wissen ja, was das heißt.

Der Kunde ist König

Von Firmenchefs und Leitern der Marketing- und Vertriebsabteilungen gern behauptet und von Verbraucherschützern stets verlangt, ist die Königlichkeit des Kunden noch immer ein schwer greifbares Konzept. Das magische Wort heißt Service. Dem Käufer wird eine Dienerschaft von Beratern, Verkäufern und Support-Mitarbeitern zur Verfügung gestellt, die ihm all seine Wünsche so schnell, demütig und teuer wie möglich erfüllen soll. Dem Herrschaftsanspruch des zum König Erhobenen wird hier also scheinbar Genüge getan. Doch bei genauerer Betrachtung wird ein Makel offensichtlich. König, der: Alleinherrscher in einer Monarchie – nicht nur leben wir in einer Republik, auch von Alleinigkeit kann niemand sprechen, der je das Innere einer Kaufhalle samstags kurz vor Ladenschluss gesehen hat. Hunderte, Tausende, Millionen von Königen tummeln sich auf Deutschlands Straßen, und was tut die Regierung? Nichts. Und das aus gutem Grund. Denn dem grassierenden Royalismus sind gleich mehrere Grenzen gesetzt.

Erstens: enorme Konkurrenz. Zweitens: stark eingeschränktes Herrschaftsgebiet. Drittens: Inverse Bedürfniskorrelation.

Inverse Bedürfniskorrelation

Hierbei handelt es sich um ein Phänomen, dass Sie, wenn Sie es nicht schon kennen, durch einen entsprechenden Versuch überprüfen können. Dazu betreten Sie eine Kaufhalle Ihrer Wahl, vorzugsweise weder samstags noch kurz vor Ladenschluss. Nehmen Sie sich vor, Brot und Eier zu kaufen.

Wenn sie den Laden betreten, gehen Sie bitte schnell am Obst- und Gemüseregal vorbei.

„Aber ich bin gesund“, schreit eine Paprika.

„Ich auch!“, stimmen andere mit ein.

„Ich komme aus Deutschland“, ruft ein Apfel stolz und lässt sich von umliegendem Obst neidisch beäugen.

„Nazi!“, brummelt eine alte Frau gehässig und wirft eine Handvoll Äpfel aus Venezuela in ihre Tüte.

Sie nehmen derweil ein halbes abgepacktes Brot und ignorieren bitte den Aufschrei der verschmähten Backwaren.

„Warum nur, warum? Bin ich nicht gut genug?“, schluchzt der Dreikorntoast Ihnen nach.

Auf dem Weg zu den Eiern begegnen Sie den Milchprodukten im Kühlregal, und ab hier wird es so richtig schwierig.

„Nur drei Prozent Fett!“, brüllt es von irgendwo.

„Nur Nullkommadrei. Nullkommadrei! So wenig Fett, dass ich schon gar kein Quark mehr bin.“

„Asbestfrei!“

Sie drehen sich erstaunt um. Eine Flasche destilliertes Wasser winkt schüchtern aus der Getränkeabteilung. „Bin ich eigentlich zu dick?“ fragen Sie sich und flüchten zu den Eiern, greifen wahllos einen Karton und wenden sich zum Gehen.

„Haaaalt! Tu’s nicht!“

Sie bleiben nicht stehen. Doch? Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.

„Das sind doch Eier aus Käfighaltung! Das kannst du nicht machen! Käfige, verstehst du, Käfige!!!“

Ehe alle drei Ausrufezeichen ausgesprochen sind, tauschen Sie entnervt Ihren Eierkarton gegen einen, der so bio ist, dass noch Erde und Gras daran kleben, und stürmen zur Kasse, wo Sie die Zutatenliste der dort lauernden Schokolade rezitieren, um die Umgebungsgeräusche ausblenden zu können.

„Lecker, lecker! Ich bin lecker!“

„Zucker, Kakaomasse, Magermilchpulver …“

„Ich schmecke guuuut, und ich hab’ Aufkleber!“

„Kakaobutter, Süßmolkenpulver …“

„Asbestfrei! Asbestfrei!“

„Butterreinfett, Kleinhirn, Emulgator Sojalecithin … wo kommst du denn her?“

Der fettarme, asbestfreie Heidelbeerjoghurt versucht unbeirrt, Ihr Hosenbein hinaufzuklettern.

„Wir sind füreinander bestimmt, du und ich, ich weiß es genau! Ich bin asbestfrei, und du mein Käufer!“

„Ich glaube nicht“, sagen Sie freundlich, aber bestimmt. „Ich esse keinen Joghurt.“

„Du hast eben noch nicht den richtigen getroffen”, werden Sie belehrt, „Wenn ich erst einmal bei dir bin, und du mir langsam den Deckel abziehst … dann den Löffel tief eintauchst … wenn du erst beginnst, zu rühren – glaub mir, es wird dir gefallen!”

Die Kassiererin greift nach dem Becher, um ihn zu scannen, doch Sie halten sie zurück.

„Äh, nein. Der geht zurück.“

Sie ernten einen irritierten Blick. Den Joghurt, der beginnt, Sie unflätig zu beschimpfen, werden Sie jedoch los.

„Ich bin laktoseintolerant!” entschuldigen Sie sich und fliehen, so schnell Sie es unauffällig können.

Die wirklich wichtigen Dinge im Leben

betrifft das natürlich nicht. Und damit sind noch nicht einmal Gesundheit, Familie und Weltfrieden gemeint, sondern käufliche, vielmehr noch: notwendige Güter. Ich spreche von Wohnungen. Aus logistischen Gründen finden Sie Wohnungen nicht im Supermarkt. Wohnungen sind nicht domestiziert. Wohnungen müssen Sie jagen.

Sie beginnen im Internet, begeistert von der Fülle der Angebote und der einfachen Suche. Sie werden schnell fündig und nutzen automatische Kontaktformulare – wie praktisch, der Text der E-Mail steht auch schon da. “Ich interessiere mich für dieses Angebot. Bitte nehmen Sie Kontakt zu mir auf.” Das hätten Sie selbst nie geschrieben, aber Teufel, ist das gut. Andere den Kontakt aufnehmen lassen klingt so unkompliziert und – aber Sie sind ja auch König. Sie verschicken diese Mail gefühlte hundert mal. Sie haben die Fährte, nun kommt das Anschleichen.


Die erste Antwort landet sechs Minuten und 14 Sekunden später im Postfach und beinhaltet einen Terminvorschlag für die Besichtigung. Sie schicken eine Bestätigung und müssen jetzt anhand der Objektnummer und des Suchdienstes erst einmal herausfinden, auf welche Wohnung sich der Termin überhaupt bezieht.

Drei Tage später ist Ihre erste Besichtigung, Ihr Terminkalender voll, und mehrere Wohnungen sind aus dem Rennen, weil Sie nicht an zwei Orten gleichzeitig sein können. Übrig bleiben achtzig, auf die Sie eine Antwort erhalten haben, eine davon muss hier eigentlich irgendwo sein. Sie sind viel zu früh. Ungeduldig zünden Sie sich eine Zigarette an. Zwei Züge später schmeißen Sie sie weg. Natürlich sind Sie Nichtraucher, so wie Sie weder Kinder noch Haustiere haben, keine Instrumente spielen, sparsam und ordentlich und vor allem finanziell abgesichert sind. Und wehe, Sie sind in Ausbildung – dann brauchen Sie Bürgen.

Der Makler ist jung, dynamisch und erfolgreich, er sieht aus wie ein Werbefoto. Im Gespräch wirkt er überraschend sympathisch, führt Sie herum und sagt Ihnen mehrfach, dass Sie Zeit haben, sich alles genau anzusehen, während er unentwegt auf die Uhr sieht.

Erst sehen Sie nur ein paar leere Zimmer. Dann sehen Sie Die Wohnung.

„Du willst hier doch gar nicht wohnen.” Die Wohnung klingt gelangweilt und ein bisschen verärgert.

„Äh, doch,” werfen Sie ein.

„Bist du dir sicher? Denn wenn du nicht sicher bist, kannst du gleich wieder gehen. Leute wie dich sehe ich hier genug. Jeden Tag kommen hier scharenweise Idioten her, die meinen, sie könnten mich haben. Zum Glück nicht mehr lange.”

„Oh, wieso?”

„Na, jeden Augenblick kann einer der Interessenten den Vertrag unterschreiben. Es waren ja schon so viele. In jeder Sekunde kann es so weit sein, jede Sekunde.”

„Lassen Sie sich Zeit,” erklärt der Makler noch einmal, ehe Sie ihn am Kragen packen.

„Was muss ich tun? Ich will sie haben, ich brauche sie, ich nehme sie hier und jetzt und will für immer in ihr bleiben!”

Routiniert schüttelt der Makler Sie ab. „Zunächst kann ich Ihnen meine Karte geben, dann überlegen Sie sich das noch und melden sich wieder-”

„Nein! Jetzt!”

„Wollen Sie nicht noch eine Nacht darüber schla- au, ich meine, also, Sie könnten eine verbindliche Mietabsichtserklärung ausfüllen, dann wird die Wohnung niemandem mehr gezeigt, bis der Vertrag zustande kommt …”

Sie haben Angst, Ihren Hals durch zu heftiges Nicken auszuleiern. Die Wohnung seufzt spöttisch.

Der Rest des Gespräches scheint automatisch zu verlaufen, Sie lächeln dabei viel und sagen oft “Ja” und „Selbstverständlich” und “Sie können sich auf mich verlassen.”

In ihrem Noch-Zuhause beginnt dann der eigentliche Spaß, denn jetzt brauchen Sie ihre letzten drei Gehaltsbescheinigungen, eine Versicherung Ihres derzeitigen Vermieters, dass Sie keine Mietrückstände haben, eine ausführliche Selbstauskunft und Ihre Schufa-Auskunft. Schufa-Auskunft? Eine kurze Recherche ergibt, dass Sie dafür bezahlen und außerdem eine Woche warten müssen. [Anmerkung: Das war zum Zeitpunkt des Schreibens der Fall. Mittlerweile ist die Schufa-Auskunft kostenlos.]

„So ein Anfänger”, murmelt Die Wohnung von fern.

Drei Wochen später

ist von Ihren hundert Wohnungen und Ihren Nerven nichts mehr übrig. Sie haben mittlerweile alle relevanten Unterlagen in zehnfacher Kopie vorbereitet und bringen sie zu jeder Besichtigung mit. Sie wissen, wie Sie sich überzeugend als ruhigen, zuverlässigen Mieter darstellen und dass Sie bei unterschriebener Mietabsichtserklärung immer noch abgelehnt werden können, gleichzeitig aber nicht weiter auf Suche gehen dürfen, da Sie für den Fall, dass Sie die Wohnung tatsächlich bekommen, aber nicht annehmen, eine Monatsmiete Entschädigung zahlen müssen.


Um die Kaution zu umgehen, sagen Sie Besichtigungstermine mit Maklern ab, sobald Sie die genaue Adresse haben, klingeln dafür bei den Nachbarn, um den Eigentümer ausfindig zu machen, dem Sie sich dann persönlich vorstellen. Sie sind entschlossen, sich nie einen Hund oder Kinder zuzulegen, aus Angst, dann nirgendwo mehr unterzukommen. Sie folgen Ihren Konkurrenten nach Gruppenbesichtigungen unauffällig und erklären, Sie hätten unter der Hand eine verbindliche Zusage erhalten.

Trotz allem scheinen andere immer schneller zu sein als Sie. Sie fragen sich, wie Sie nur an Ihre jetzige Wohnung gekommen sind. Ach ja, DDR-Zeiten, richtig. Oder: Darum hat sich damals Ihre Mutter gekümmert, schließlich ist es die Wohnung Ihrer Mutter.

Es gibt nur eine Sache

die so stressig ist wie die Wohnungssuche, und das ist Arbeit suchen. Hundert Kontaktaufnahmen, hundertmal Eigenlob, hundertmal Papiere suchen, die beweisen, dass Sie ein guter Mensch sind. Und irgendwie wird Ihnen dabei klar, dass alle Dinge, die nicht ganz so wichtig sind, eben darum so offensiv beworben werden müssen. Ein klarer Fall von Angebot und Nachfrage, Grundlage der Marktwirtschaft. Sie hatten das mal in der Schule. Damals klang das nur besser und hatte irgendetwas damit zu tun, dass Verbraucher durch Selektion die Welt verändern können oder so. Um Waren, die künstlich knapp gehalten werden oder durch übermäßige Konkurrenz auf einmal irgendetwas über Ihre Identität aussagen sollen, ging es im Unterricht nie. Die Wahl des richtigen Joghurts wird zur Leitfrage und bestimmt Ihren Charakter, Ihr Leben. Wo Sie leben, wo Sie arbeiten, das ist dagegen Glückssache. Inverse Bedürfniskorrelation bedeutet: Je weniger Sie etwas brauchen, desto aggressiver springt es Ihnen ins Gesicht. Den wichtigen Dingen laufen Sie schließlich von selbst hinterher.

Die Rettung aus Ihrer Wohnungsnotlage bringt der Bruder eines Kollegen, dessen Nachbar überraschend in eine andere Stadt zieht. Ein paar gezogene Fäden später betreten Sie ihr neues Zuhause und sinken wohlig auf das Laminat. Die Wände haben Schimmel und das Wasser wird erst nach zehn Minuten warm, stellen Sie in den nächsten Tagen fest, aber das ist ja überall so. Dafür dürfen Sie die Kücheneinrichtung übernehmen. Im Kühlschrank steht noch ein Heidelbeerjoghurt, garantiert asbestfrei.