Das Klaus

Gesammelte Werke

16.03.2014

Prostitution: zur verqueren Moral von Verboten

Seit langem will ich etwas zu Prostitution schreiben. Immer hält mich davon ab, dass ich Überzeugungen zu Wirksamkeit von Maßnahmen und gegenwärtigem Ausmaß von Menschenhandel und Zwangsprostitution schlecht belegen kann. Ich habe da mal eine Studie gelesen und Statistiken gesehen, und finde die nicht wieder, oder ich schiebe vor mir her, Zahlen und wissenschaftliche Arbeiten zu beschaffen und zu recherchieren. Ich habe die Fakten nicht parat.
Aber hier geht es nicht um Fakten, hier geht es um Moral - das zeigt der Tonfall der Debatte immer wieder und spiegelt sich in Argumenten auf allen Seiten. Und wenn es um Moral geht, lässt sich mein Standpunkt meist zusammenfassen mit "Lasst die Leute doch!". Menschen mit Verboten an etwas zu hindern, heißt, ihnen Freiwilligkeit zu verwehren, ihnen eine Option zu nehmen. Das geschieht nicht immer aus guten Gründen. Sollte es aber. Prinzipiell gehen wir in meiner Wunschvorstellung davon aus, dass alles erlaubt ist, und verbieten und regulieren dann dort, wo es nötig ist, und zwar evidenzbasiert und nicht auf Grundlage davon, was sich richtig anfühlt und was nicht. So gibt es für viele Berufe Sicherheits- und Gesundheitsvorschriften. Einen ganzen Berufszweig zu verbieten geht eigentlich nur dort, wo die gehandelte Ware oder Dienstleistung an sich illegal ist: Drogenhandel oder Auftragsmord, beispielsweise. Da Sex an sich erlaubt ist, würde ein Prostitutionsverbot de fakto bedeuten, dass man ihm keinen Geldwert zuweisen darf.

Wie absurd das ist, illustriert eine Studie, die untersucht, welche Gründe Menschen zu Sex bewegen. Darunter sind nicht nur Lust und Liebe zu finden, sondern auch Langeweile, Selbstbestätigung, das Vergnügen des Partners und Manipulation. Nicht immer ist das eigene oder gemeinsame Vergnügen also ausschlaggebend, und Sexualität im Tausch anzubieten ist nicht allzu ungewöhnlich: für Status, Symphatie, eine tiefere Bindung oder eben auch Geld. Dabei schließen sich diese Gründe nicht gegenseitig aus: Sex, den ich aus Liebe habe, kann mir durchaus auch Lust bereiten, und Sex, der einem erhöhten Status dient, kann mit einer tiefen Verbindung einhergehen. Beweggründe für menschliches Handeln sind in aller Regel komplex, und die Beweggründe anderer in Frage zu stellen, wie es in der Prostitutionsdebatte regelmäßig passiert, greift tief in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen ein. Warum Menschen sich für Prostitution entscheiden, kann also Gegenstand der Debatte sein, aber niemals unterstellt werden.

Weil es leider immer noch nötig ist, das direkt zu sagen: in der Prostitutionsdebatte geht es nicht um Zwangsprostitution oder Menschenhandel. Beides ist illegal und soll es auch bleiben. Auch kann nicht behauptet werden, dass es an harten Strafen mangelt: hier kommen Zwangsarbeit, Menschenhandel, Nötigung, Freiheitsberaubung und Vergewaltigung zusammen: alles keine Kleinigkeiten. Man kann bessere Aufklärung, Beratungsstellen, intensivere Verfolgung und bessere personelle Ausstattung der ermittelnden Stellen fordern - stattdessen wird die Kriminalisierung der Prostitution insgesamt postuliert. Das ist ungefähr so, als wolle ich gegen Kinderarbeit in Fabriken vorgehen, indem ich Fabriken verbiete.
Ich halte die Problematik von Menschenhandel und Zwangsprostitution daher für vorgeschoben. Betroffene mögen mir verzeihen, dass ich hier über freiwillige Prostitution spreche.

Gegen diese wird angeführt, sie reduziere Menschen auf Lustobjekte, wäre unwürdig, widerlich und niemand würde sie wirklich freiwillig ausüben. Das wirft die Frage auf, was eigentlich "wirklich" freiwillig bedeutet. Natürlich dürfte der Anteil derer, die dieser Arbeit zur Selbstverwirklichung nachgehen, eher gering sein. Dass das niemandem Spaß machen kann, ist allerdings Blödsinn: Sexarbeit setzt Anbieter sexueller Dienstleistungen in eine sexuelle Machtposition. Finanziell messbar begehrt zu werden, kann Selbstwertgefühl und auch Lust steigern. Geld für etwas zu bekommen, das üblicherweise kostenlos gehandelt wird, ist auch Zeichen von Wertschätzung für die angebotene Leistung. Die geschäftliche Abwicklung kann auch Fokus eines Fetisch sein. Und wenn wir von Menschenwürde sprechen: Als degradierend kann es sowohl empfunden werden, jemandem zu Diensten zu sein, als auch, jemanden bezahlen zu müssen.

Problematisch wird all das eigentlich nur, wenn Not ins Spiel kommt. Wie nötig muss man das Geld, das man auf diese Weise verdient, haben, damit nicht mehr von Freiwilligkeit ausgegangen werden kann? Und man kann ja davon ausgehen, dass sich Menschen in aller Regel vorrangig des Geldes wegen prostituieren - sonst hätten sie ja schließlich unbezahlten Sex. Nun servieren Menschen aber auch des Geldes wegen Burger, tragen Zeitungen aus oder reinigen Hotelzimmer. Das macht diese Tätigkeiten nicht weniger freiwillig. Gastarbeiter, die für Hungerlöhne Spargel stechen, Dienstleister, die auf Schritt und Tritt von Arbeitgebern überwacht werden und Praktikanten, die für leere Versprechungen zukünftiger Jobs in umkämpften Branchen Arbeitsschutz und Arbeitszeiten ignorieren und ignorieren lassen sind genauso Opfer von Ausbeutung - niemand käme auf den Gedanken, darum Spargel zu verbieten. Armutsprostitution bekämpft man nicht, indem man Prostitution, sondern Armut bekämpft. Illegale Zuwanderung von Sexarbeitern ist deshalb so groß, weil den Betroffenen legale Zuwanderung (oder legale Arbeit) nicht möglich ist. Kaum jemand lässt sein Zuhause und seine Familie zurück, der es nicht nötig hätte. Diese Not muss man bekämpfen, nicht die Linderung, der Leute hinterherreisen.

Klar ist, dass Menschen verschieden sind. Während Prostitution für den einen sexuelle Befreiung bedeutet, wäre sie für den anderen traumatisierend, und für den nächsten eine unangenehme, unliebsame Pflicht. Zu Prostitution darf niemand gezwungen werden, nicht mit Gewalt und nicht durch finanzielle Not. Nur, dass das im Prinzip auch für Callcenterarbeit gilt. Zwangsarbeit ist verboten und zumindest in Theorie gibt es die freie Berufswahl. Dass die Sanktionsmöglichkeiten von Hartz-IV und das Konstrukt von "zumutbarer Arbeit" das in der Praxis unterwandern, ist ein erhebliches Problem. Niemand will, dass Prostitution "zumutbare Arbeit" wird. Wie für andere Berufe auch gilt hier: das muss einem schon liegen. Und das muss man auch können.

Es ist ja auch so ein Vorurteil, dass Prostitution eine Art Notlösung wäre, die jedem offen stünde. Halt: die jeder Frau offen stünde. Ich habe bis jetzt bewusst darauf verzichtet, geschlechtsspezifisch zu werden: ein überwiegender Teil der Prostituierten mag weiblich sein, aber erstens betrifft die Debatte auch die männliche Minderheit, und zweitens macht es keinen Unterschied für die theoretische Zulässigkeit als Beruf. Dass es in der Regel Männer sind, die die Dienstleistungen von Frauen in Anspruch nehmen, ist historisch gewachsen aus einer zutiefst sexistischen Gesellschaft, die lange Zeit Männern das Einkommen für derartige Ausgaben und Frauen kaum andere Wege der Selbständigkeit eingeräumt hat. Dass es vereinzelt Männer unter den Anbietern und Frauen unter den Kunden gibt, sollte als Beleg dafür ausreichen, dass es sich dabei nicht um eine zwangsläufige, natürliche Konstellation handelt.
Im öffentlichen Bewusstsein gilt Prostitution jedenfalls als Zeichen extremer finanzieller Not - oder unnatürlicher moralischer Verdorbenheit. Letzteres ist so diskriminierend und menschenverachtend, dass ich darauf gar nicht weiter eingehe. Ersteres wertet die Qualifikation, die der Beruf erfordert, aber ebenfalls ab. Der Markt für "Leute, die, weil sie das Geld so dringend brauchen, widerstrebend Dinge mit sich machen lassen" ist längst nicht so groß wie der für Menschen, die wissen, was sie tun und darin gut sind. Und vergessen wir nicht, dass der potentielle Kundenkreis sehr schnell schrumpft, je mehr der Anbieter vom gängigen Schönheitsideal abweicht.

Gute Sexarbeit verdient Respekt. Nicht, weil Sexarbeiter der Menschheit einen großen Dienst erweisen oder zwangsläufig Schreckliches ertragen. Sondern weil jeder Mensch einen respektvollen Umgang mit Entscheidungen verdient, die niemandem schaden.
Denn wem schadet es eigentlich, dass sexuelle Handlungen angeboten werden? Fragt man Alice Schwarzer, lautet die Antwort: den Frauen. Weil die Verfügbarkeit des Angebots suggeriert, dass Frauen eine Ware seien, die man kaufen könne. Dass sich Schwarzer beharrlich weigert, den Unterschied von Waren und Dienstleistungen zu verstehen, ist schmerzhaft. Ich kaufe ja auch nicht den Masseur, der meine Rückenschmerzen beseitigt, dabei ist der Effekt ein ähnlicher: ich erwarte physisches Wohlbefinden für mein Geld, will entspannt und wohlgelaunt das Etablissement verlassen, und erkaufe mir Zufriedenheit, selbst wenn keine medizinische Indikation vorliegt, die die Prozedur notwenig machen würde.

Ohnehin wird oft die Frage gestellt, ob Prostitution ein Beruf wie jeder andere sei. Aber was ist denn "jeder andere" Beruf? Und: natürlich ist Prostitution irgendwie anders. So, wie viele Berufe irgendwie anders sind. Es wird immer gern der Anschein erweckt, man könne Prostitution mit nichts vergleichen. Dabei kann man! Ist ganz leicht!
Ich bin zum Beispiel nicht der Erste, der auf die Idee gekommen ist, Prostituierte mit Soldaten zu vergleichen. Es gibt viele Menschen, die den Beruf und alle, die ihn ausüben, vehement ablehnen ("Soldaten sind Mörder"). Es ist unklar, ob er überhaupt gemacht werden muss, und Menschen, die ihn ergreifen, sehen sich einer Reihe Vorurteile ausgesetzt. Viele können es sich für sich selbst nicht vorstellen, und diejenigen, die es können, sind oft von romantisierten Darstellungen geprägt. Viele entscheiden sich vor allem der sicheren Existenz wegen dafür, oder aus anderen "schlechten" Gründen: Abenteuerlust, Heldenträume, Ziellosigkeit, Risikofreude. Nun kann man einlenken, dass Soldaten heutzutage nicht nur zum Töten ausgebildet werden. Ebenso geht es bei Prostitution aber nicht nur um Geschlechtsverkehr (Stichwort Soft Skills: Menschenkenntnis, Selbstvermarktung und vergessen wir nicht all die anderen Formen von Sexarbeit).
Trotzdem stellt sich erstaunlicherweise niemand, der diese Wahl selbst nie treffen würde, hin und erklärt, niemand könne freiwillig Soldat sein.

Wer jetzt auf die Idee kommt, ich wolle Sex mit Gewalt gleichsetzen: nehmen wir einmal Kunst. Verkauft ein Orchestermusiker seine Seele, weil er so spielen muss, wie es ihm Komponist und Dirigent vorgeben? Ist Musik nicht etwas, das vor allem mit Gefühl zu tun hat, eine Ausdrucksform für persönlichste Empfindungen? Lässt sich so etwas verkaufen, noch dazu, wo doch viele Menschen privat, unentgeltlich für- und miteinander singen und musizieren? Geht nicht der Zauber verloren, wenn man Fremde auf Zuruf zum eigenen Vergnügen performen lässt?

Was genau ist an Sex so anders, dass es so viel Unmut hervorruft, auch nur zu gestatten, dass Menschen ihn vermarkten?
Das Problem ist in der Sexualmoral zu finden. Der einzige Unterschied einer Prostituierten zu, sagen wir, einer Friseurin, ist die Art der Dienstleistung. Für jede andere Tätigkeit ist es legitim und wird auch so empfunden, Menschen zu bezahlen. Ich kann mir, sofern ich über die Mittel verfüge, die Wohnung putzen, das Fahrrad reparieren, den Hund Gassi führen und meinen Kindern Nachhilfe geben lassen. Aber auch, wenn es um reines Wohlbefinden geht, steht mir eine Vielzahl an Dienstleistern zur Auswahl, die sich gegen Geld meines körperlichen oder seelischen Wohlbefindens annehmen: Schauspieler, "Alternativmediziner", Musiker, spirituelle Berater, Masseure, sie alle dienen dazu, dass ich etwas empfinde, dass es mir gut geht. Und niemand nimmt es mir übel, wenn ich keinen Gedanken an ihren Spaß dabei verschwende. Vor einer Pediküre wasche ich mir vermutlich die Füße und pflege einen höflichen Umgang mit meinem Dienstleister, aber ob dieser daran Spaß hat oder nicht oder tiefe Befriedigung, ja persönliche Befreiung dabei empfindet, geht mich nichts an - ich zahle schließlich für mein eigenes Wohlergehen. Was also ist an Sex anders?

Hier kollidieren verschiedene Vorstellungen von Sex. Wer Jungfräulichkeit zu moralischer Reinheit stilisiert, Sex als Ausdrucksform von tiefer Zuneigung betrachtet, die es für besondere Menschen zu reservieren gilt oder Lust als Geschenk an die große Liebe (oder gar als notwendiges Übel zur Fortplanzung), wird mit Prostitution weder als Kunde noch als Anbieter etwas anfangen können. Wer Sex primär als physische Befriedigung eines Bedürfnisses sieht, hat mit einem Handel derselben üblicherweise weniger Schwierigkeiten - weder gegen Geld noch als sozialen Kitt. Es existieren mehrere, scheinbar widersprüchliche Narrative zu Sexarbeit, die verschiedenen Anschauungen und Erfahrungen geschuldet sind. Keine Seite profitiert davon, das Narrativ der anderen zu ignorieren. Prostitution kann Selbst- wie Fremdausbeutung sein, es kann genausogut eine Dienstleistung wie jede andere sein - je nachdem, wie das Empfinden der ausübenden Person dazu ist. Wir müssen zunächst akzeptieren, dass verschiedene Menschen verschiedene Realitäten erleben, und diese durch die Existenz anderer Erlebnisse nicht weniger real werden.

Dass eine Tätigkeit vielen Menschen, die sie ausüben, nicht gut täte, ist ein Werturteil über die freien Entscheidungen anderer und sehe ich damit als nicht zulässig an, danach Politik zu betreiben. Um grassierenden Problemen in der Prostitution zu begegnen, sind diese Werturteile nicht hilfreich. Ausbeutung, Not und schlechten Arbeitsbedingungen kann und muss man gegenübertreten, ohne das Stigma zu verschärfen. Die Kampagne Alice Schwarzers ist an dieser Stelle Teil des Problems.
Menschen, die zu gewalttätigen Partnern zurückkehren, wird diese Entscheidung, die für sie in der Regel nur Leid, finanzielle und emotionale Abhängigkeit und weitere Gewalt bedeutet, nicht von staatlicher Seite versagt. Ein solcher Vorschlag würde wegen seines unzulässigen Eingriffs in die Autonomie der betroffenen Menschen und der fremdbestimmten Zuschreibung, was gut und was schlecht für andere ist, sicher empört abgelehnt. Bei Prostitution hingegen ist die Zuschreibung der Opferrolle gang und gebe. Das muss aufhören.

Man muss sich bei politischen Forderungen immer fragen, was das Ziel sein soll, und ob die Forderung geeignet ist, dieses Ziel zu erreichen oder ihm zumindest näher zu kommen. Geht es um weniger Prostitution? Ein respektvolleres Frauenbild in der Gesellschaft? Abschaffung von Objektifizierung? Von sexueller Repression?

Was ich fordere, ist die vollständige Legalisierung von Prostitution, und die Regulierung derselben durch Maßnahmen, die geeignet sind, Arbeitsbedingungen und Sicherheit tatsächlich zu verbessern - damit kennen sich andere Menschen besser aus, und an dieser Stelle lohnt es, die Forderungen der Sexarbeiter selbst anzusehen. [An dieser Stelle mussten tote Links leider entfernt werden. Einen Überblick über die Interessen von Sexarbeitern kann man sich beim Berufsverband Sexarbeit oder dem Bündnis der Fachberatungsstellen für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter verschaffen] Darüber hinaus zeigt das Thema auch andere Problemfelder auf: in der Einwanderungs-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Dass die Fakten- und Studienlage so dürftig ist, ist ebenfalls ein Alarmsignal: ich wünsche mir mehr Untersuchungen und damit mehr Möglichkeiten, Wirksamkeit und Unwirksamkeit von Regulierungsmaßnahmen zu überprüfen.

Ich weise darauf hin, dass ich trotz der ungewöhnlichen Länge dieses Posts kaum an der Oberfläche kratzen konnte. Ich habe weder über die Situation von Freiern noch der von Förderern der Prostitution gesprochen, auch alle anderen Formen der Sexarbeit ausgeklammert, nicht über Pornografie, Jugendschutz, Objektifizierung und Sexismus geschrieben und ohnehin nur den moralischen Aspekt eines Totalverbotes angerissen. All das gilt allerdings nicht nur für die Ausübung, sondern auch für die Inanspruchnahme der betreffenen Dienstleistungen. Freierbestrafung betrachte ich daher als dasselbe in grün.
14.03.2014

Geschlechtergerechte Sprache

Sprache ist ein Medium und kann sowohl zur Diskriminierung als auch Inklusion verwendet werden. Sprachliche Konventionen machen außerdem Diskriminierungen und Privilegien in der Gesellschaft sichtbar. Da sich Sprache in der Regel nur langsam entwickelt, finden sich auch immer Hinweise auf historische Attitüden darin.

Von der Veränderlichkeit der Sprache

Wörter haben eine Bedeutung. Diese Bedeutung wird kollektiv durch ihre Verwendung definiert, unterliegt also einem Wandel, der selten von der kompletten sprechenden (und schreibenden) Bevölkerung auf einmal vollzogen wird. Vielmehr ist ein solcher Wandel etwas, das sich schrittweise zunächst in einzelnen Kreisen und Gruppen entwickelt, und sich dann im Rest der Bevölkerung etabliert - oder auch nicht. Die meisten Versuche, Sprache bewusst zu beeinflussen, sind fehlgeschlagen und untergegangen, weil sie sich nicht verbreitet haben. Andere sind in die Alltagssprache übergegangen, ohne dass die dahinterliegende Absicht überhaupt noch bekannt wäre. Und zu guter Letzt werden Begriffe entwendet, übernommen, gekapert und umgedeutet, Konnotationen verschwinden, schlagen ins Gegenteil um oder verfestigen sich. Nicht immer ist es möglich, den Status quo eines Begriffes klar einzufangen, da er von verschiedenen Leuten verschieden verwendet wird. Der Duden bemüht sich, ein klares Abbild der aktuell verwendeten Wörter zu schaffen, kann sich bei seiner Einschätzung aber sowohl irren als auch selbst Einfluss nehmen durch die Legitimation von Neologismen oder deren Nichtaufnahme.
Kurz: Sprache ist kompliziert. Sie wabert.

Alles ist erlaubt

Jedes Wort, aber auch jede grammatikalische Regel war irgendwann einmal falsch. Und zwar genau solange, bis so viele Menschen "falsch" gesprochen oder geschrieben haben, dass es schließlich richtig wurde. Jeder, der eine Sprache verwendet, zerrt an ihr und drückt ihr seine eigene Verwendung auf. Dialekte sind ein Beispiel dafür: nie käme ich auf die Idee, langweilick statt langweilich zu sagen, eine nicht unerhebliche Menge Menschen sieht das aber anders und sagt es einfach, ohne mich zu fragen. Mit der Zeit verändern sich Aussprache, aber auch Schreibweise. Aus itzt wurde jetzt. Aus E-Mail wurde Email. Aus Delphin Delfin. Und immer gab und gibt es Menschen, die sich einfach nicht an die Regeln halten. Ich kann mir nicht abgewöhnen, kucken statt gucken zu schreiben, nichtssagend statt nichts sagend. Das ist noch harmlos gegen diejenigen, die mit Apostrophen um sich schmeißen, als wären sie Falschgeld, das schnell unters Volk gebracht werden müsse. Aber die dürfen das. Mit Verlassen der Schule gibt es keine Bewertung der Rechtschreibung und des Stils mehr. Erlaubt ist, was gefällt - es mag wenig professionell erscheinen, aber wenn die Korrektur Willi´s Bahnhof's Markts den Umsatz steigern würde, wäre sie längst erfolgt. Willi darf das. Genauso darf ich mich darüber lustig machen, was ich hiermit getan haben möchte. Haha!

Wörter bedeuten Dinge

Im wissenschaftlichen Betrieb, vor allem in den Geisteswissenschaften, ist es Usus, zu Beginn einer Arbeit zunächst sämtliche verwendeten Fachbegriffe zu definieren. Das ist oft nötig, da gebräuchliche Begriffe wie "System" oder "Information" je nach Kontext sehr allgemeine oder sehr präzise Dinge beschreiben können. Oft muss zum fehlerfreien Verständnis erläutert werden, auf welche Theorie, welches Modell, welche Literatur man sich bezieht, oder selbst eine Definition vornehmen. Im Alltag bleibt es nötig, sich auf die übliche Bedeutung zu beschränken oder sich umständlicher auszudrücken. Trotzdem entstehen viele Missverständnisse aus unterschiedlich verstandenen Begriffen, da nicht immer Einigkeit darüber besteht, was die übliche Bedeutung denn nun genau ist. Kommunikation kann überhaupt nur erfolgen, wenn wir Sprache gemeinsam benutzen, in Wechselwirkung von Sender und Empfänger, was wiederum erfordert, eine gemeinsam verstandene Ausgangsbasis zur Verfügung zu haben. Sich über Konventionen hinwegzusetzen, um Sprache zu verändern, kann also nur dann funktionieren, wenn man sich erklärt.

Das generische Maskulinum

Nun aber endlich zur Geschlechtergerechtigkeit: die deutsche Sprache ist durchsetzt von sprachlich manifestierter Ungleichheit. Nicht nur haben sämtliche Substantive im Deutschen ein Geschlecht, auch gibt es keine geschlechtsneutrale Einzahl, um Personen zu bezeichnen, keine Möglichkeit, Frauen und Männer gleichermaßen anzusprechen, wenn man Praktikanten sucht oder adressieren möchte. "Wir suchen einen Praktikanten" macht aus dem Gesuchten einen Mann, und "Liebe Praktikanten" spricht nur die Männer an, zumindest formal. De fakto sind, und das schon lange, Frauen in dieser Form grundsätzlich mitgemeint, der unbekannte Praktikant könnte ebenso eine Praktikantin sein und die Praktikantinnen werden kaum annehmen, das von ihnen nicht die Rede sei. Aber: es ist die männliche Form, die möglicherweise mitgemeinte Frauen unsichtbar macht. Wir haben hier ein Problem.

Markierte und unmarkierte Begriffe

Praktikantin ist ein markierter Begriff: er bezeichnet ganz spezifisch und ausschließlich eine Frau. Praktikant hingegen kann sowohl markiert ("Der Praktikant öffnete mir die Tür") als auch unmarkiert ("Das ist eine Aufgabe für einen Praktikanten") sein, wenn das Geschlecht der betreffenden Person nicht bekannt ist. Ein ähnliches Phänomen kann man anhand von Tag und Nacht beschreiben. Für sich genommen bezeichnen sie die Zeitspanne zwischen Sonnenauf- und Untergang bzw. umgekehrt, ein Tag kann jedoch außerdem beide auf einmal meinen, nämlich 24 Stunden. Die Bedeutung erschließt sich dann erst aus dem Kontext: "Ich habe den ganzen Tag Computer gespielt" lässt Raum für eine Nacht Schlaf, "In zwei Tagen muss ich die Hausarbeit abgeben" schließt zwei Nächte ein. Eine fünftägige Reise beinhaltet hingegen nur vier Nächte, und in Hotels werden gar die Tage in die Nächte eingeschlossen, wenn man ein Zimmer für drei Nächte bucht.

Das generische Femininum

Das Maskulinum ist also die unmarkierte Form, die je nach Kontext Frauen einschließen kann oder nicht. Um der daraus resultierenden mangelnden Sichtbarkeit von Frauen in der Sprache entgegenzuwirken, gibt es nun Bemühungen, das Femininum unmarkiert zu verwenden. Die Universität Leipzig hat das zum Beispiel getan - in jenen Fällen, in denen keine bestimmte Person, sondern eine Rolle bezeichnet wird, deren innehabende Person nicht bekannt ist und somit auch nicht ihr Geschlecht, verwendet sie die weibliche Form und meint die Männer damit mit. Die Presse reagierte darauf zunächst mit Überschriften wie "Herr Professorin" - eine Formulierung, die auf diese Weise natürlich nie zustandekäme, da das Geschlecht eines Herren ja durchaus bekannt ist und damit gar kein unmarkierter Begriff vonnöten ist. Auf Twitter gibt es das Projekt der "In-Woche", während der Teilnehmer für eine Woche das Femininum unmarkiert verwenden, und auch die Uni Potsdam benutzt in ihrer Geschäftsordnung das generische Femininum. Dessen Verwendung zeigt den sprachlich privilegierten Männern, wie es so ist, nur mitgemeint zu sein, und viele entrüstete Reaktionen ("Ich bin aber keine Bürgerin und will auch nicht so genannt werden und fühle mich davon nicht angesprochen") bestätigen nur die sprachliche Ungerechtigkeit, an die sich Frauen längst gewöhnt haben.

Andere Versuche geschlechtergerechter Sprache

Das generische Femininum ist natürlich ein radikales Konzept, das die Diskriminierung umkehrt und insofern als Brückentechnologie, politisches Statement und sprachfeministische Kampagne zu verstehen. Seine Etablierung würde nicht zu mehr Gerechtigkeit und Gleichheit führen, sondern illustriert nur das Problem. Ältere und bekanntere Maßnahmen sind die Beidnennung (Praktikantinnen und Praktikanten), das Binnen-I (PraktikantInnen), diverse Striche (Praktikant-in, Praktikant/in, Praktikant_in) und das Sternchen (Praktikant*in), das außerdem als Trans-Sternchen bekannt ist und Transsexuelle, Intersexuelle sowie Menschen nicht-binärer Geschlechtsidentität einschließt. Diesen Formen ist gemein, dass sie sich nicht mitsprechen lassen, also ausschließlich schriftlich existieren, und allenfalls durch bedeutungsschwangere Pausen oder ausgesprochene Interpunktion sprachlich zum Ausdruck gebracht werden können.

Pragmatische Bedenken

Nun kann man all diese Varianten verwenden, sich darüber streiten, welche gerechter ist und ob sie überhaupt nötig sind, Fakt bleibt, dass Sprache von allen gemacht wird, die sie verwenden, und sich die Mehrheit durchsetzt. Die Mehrheit sind in diesem Zusammenhang zwei verschiedene Mehrheiten: einerseits das, was "auf der Straße" gesprochen wird (darunter zählen übrigens auch Unterhaltungen in geschlossenen Räumen, freier Natur oder auf Bürgersteigen und Fußgängerzonen), und andererseits die förmliche Sprache in Beruf und Behörden - das, was in offiziellen Schriftstücken steht, was man in einer Bewerbung formulieren würde, in einer Rede oder einem Meeting. Die Beidnennung und das Binnen-I sind in der förmlichen Sprache bereits gut angekommen, privat begegnen sie einem aber selten. Das generische Femininum ist weiterhin eher unbekannt und wird nur in höchst ausgesuchten Kreisen verwendet, wo es allenfalls ein kleines Gegengewicht schafft.

Das Privileg des Maskulinum

Was das Gendern "auf der Straße" so unbeliebt macht, ist das eigentliche Privileg, das hinter dem generischen Maskulinum steht: es ist die Grundform, der Stamm eines Wortes. Jede Bemühung, geschlechtergerecht zu kommunizieren, erzeugt mehr Silben, mehr Buchstaben: also das, was die Alltagssprache zugunsten von "ähm" und "öh" und "weißte" und "Hammer, Alter!" wegrationalisiert. Umgangssprache schleift Endungen und Silben rund, verkürzt Begriffe, wo sie es kann, um dann möglichst bedeutungsarme Laute in Denkpausen einzuschieben. Das maskuline Privileg ist es, der Default-Begriff zu sein, die Kurzform, die Grundform, während alles Weibliche in einer längeren, speziellen Sonderform auf dem zweiten Platz landet. Was im Übrigen rein biologisch andersherum ist: die Grundform des Lebens ist weiblich, und erst mit der "Erfindung" der Geschlechter wurde eine zweite, abgewandelte Form, die männliche, eingeführt. Dieses Prinzip zieht sich bis zum Menschen durch: ein Mensch, der kein Testosteron erhält, entwickelt sich phänotypisch zur Frau, unabhängig von den Chromosomen, die er besitzt. Gesellschaftlich werden Frauen aber immer noch als Sonderform des Männlichen angesehen - ein Strichmännchen ist ein Mann, bis man lange Haare dazuzeichnet oder Brüste, antropomorphe Spielfiguren sind männlich, solange sie nicht durch Kleider, pinke Farbe oder Lippenstift und Wimpern als weiblich gekennzeichnet werden und zuguterletzt ist jeder Wortstamm einer Personenbezeichnung zugleich die männliche Form, die mit einem -in versehen werden muss, um sie weiblich zu machen.

Gendern auf englisch

Was die englische Sprache an dieser Stelle tut ist perfide: sie ermöglicht ein Gendern gar nicht erst. "The intern opened the door" ist ein unübersetzbares Mysterium, das erst Auflösung erhält, wenn der Praktikant wichtig genug für einen zweiten Satz ist, indem aus der Rollenbezeichnung dann ein "he" oder "she" werden könnte. Und selbst dann gibt es für einen Praktikanten, dessen Geschlecht man nicht kennt, noch einen netten kleinen Trick: das singuläre they. Einst üblich, ist es in der Versenkung versunken und in Vergessenheit geraten, erlebt aber eine Renaissance, die durchaus erfolgversprechend ist - im Gegensatz zu vielen, nur in kleinsten Kreisen akzeptierten Versuchen, neue Pronomen zu etablieren - Versuche, wie es sie auch hierzulande gibt und von denen die Wenigsten auch nur gehört haben.

Ein versuchtes Fazit

Ich mag meine Sprache, und der deutsche Hang allem immer ein Geschlecht zuzuweisen ist durch Wünschen allein nicht zu entfernen. Auch kann ich kaum als neutral gelten, da das generische Maskulinum mir immer ermöglicht hat, meine fehlende Geschlechtsidentität hinter scheinbar unmarkierten Begriffen zu verstecken. Aber geht es im Feminismus nicht darum, den Standard, den Default, für Frauen zu öffnen? Als Frauen Wahlrecht gefordert haben, wurden da Wahlkabinen für Frauen gebaut, und ein Frauenparlament? Ging es nicht immer darum, Privilegien abzubauen, indem das Privileg für alle geöffnet wurde und damit kein Privileg mehr war? Statt sich mit einem speziellen Extra-Wort nur für Frauen zufriedenzugeben wie mit einem Trostpreis oder einer Teilnehmerurkunde, können wir das -in nicht einfach ganz abschaffen?
Ich bin nicht so naiv, wie das klingt; ich weiß, das es nie so einfach geht, und dass die Unsichtbarkeit von Frauen aus der Sprache so nicht verschwinden wird. Man wird sich immer noch zuerst einen jungen Mann vorstellen, wenn man Praktikant sagt. Aber je öfter man überrascht wird, desto eher verschwindet die maskuline Konnotation der Grundform. Wäre das nicht schön? Und ja: hätten wir Frauenwahlkabinen und Frauenparlamente eröffnet, der Anteil weiblicher Politiker wäre nicht bis heute so erschreckend niedrig. Der Sprache wird es kaum anders gehen. (An dieser Stelle mein Lieblingssprachwitz: Sitzen zwei Homosexuelle im Flugzeug. Sagt die eine zur anderen: "Bestimmt haben sich jetzt alle zwei Schwule vorgestellt." Antwortet die Copilotin: "Und sicher halten sie uns für Passagiere.")

Für mich bedeutet Feminismus, Frauen und Männer nicht zu trennen, sondern zu Menschen zusammenzufassen. Und das Vorrecht auf die sprachliche Grundform nicht den Männern zu überlassen und mit einem extra, extra für uns gemachten -in zurückzubleiben.

Anmerkungen: ich spreche im letzten Satz vorübergehend als Frau. Ich bitte alle Frauen dieser Welt um Verzeihung.
Dieser Text soll generisches Femininum, Beidnennung, Binnen-I, Sternchen und alle anderen Bemühungen um geschlechtergerechte Sprache nicht abwerten. Ich sympathisiere. Nicht hauen.
10.02.2014

Arbeit und ich - eine Trennungsgeschichte

Arbeit und ich haben eine sehr schwierige Geschichte. Ihr kennt dieses Paar, dass sich einmal im Jahr trennt, einander die Besitztümer des anderen an die Schädel wirft, sich dann wieder verträgt, eine viel zu kurze gute Zeit miteinander verbringt und sich dann monatelang hasst, nur um sich auf die gleiche Weise wieder zu trennen und zu vertragen? Das sind Arbeit und ich.

Wie die meisten dieser Paare kennen wir uns schon lange und hatten sowohl Phasen, in denen wir längere Zeit nicht zusammen waren und welche, in denen wir uns fast wie in einer gesunden Beziehung zueinander verhalten haben. Und wir sind mit unrealistischen oder ungenauen Vorstellungen voneinander großgeworden, mit daraus erwachsenden Ansprüchen, die keiner von uns erfüllen kann. Dass wir uns nicht glücklich machen, ist quasi vorprogrammiert.

Als ich kleiner war, war Arbeit das, was man tut. Irgendwas tut ja jeder und das, was ein Erwachsener die meiste Zeit tut, ist dann sein Beruf. Weil ich gerne Dinge tue, wollte ich auch irgendwann einen davon haben, auch wenn die Wahl mir doch sehr schwierig schien, da sie alle eine Festlegung auf eine einzige Beschäftigung erfordern. Buchbinder, Astronaut, Mechatroniker und Tischler haben gemeinsam, dass man nicht alles davon werden kann, jedenfalls nicht auf einmal.
Berufe sind außerdem besser als Schule: man sucht sich einen aus, den man mag, und muss alle die, die man nicht mag, gar nicht machen. Wenn es einem nicht gefällt, kann man gehen und sich einen anderen suchen. Und dann kann man sich auch noch zwischen verschiedenen Arbeitsplätzen entscheiden, so dass man sich auch noch aussuchen kann, in welchem Umfeld, mit welchen Leuten und zu welchen Bedingungen man arbeitet. Klar ist das nicht ganz so einfach - damit man eine Wahl hat, muss man gut sein. Man muss viel können oder viel wissen, am besten beides, damit man Auswahl hat.
Eigentlich hat sich an dieser Vorstellung nichts geändert. Ich möchte immer noch alles auf einmal machen, und kann mir nicht vorstellen, immer nur eine Sache zu machen. Ich finde es immer noch wichtig und erstrebenswert, viel zu können und viel zu wissen. Und möchte mir aussuchen, mit welchen Leuten und zu welchen Bedingungen ich arbeite.

Arbeit ist auch mit bestimmten Ideen großgeworden. Arbeit erinnert sich an die Industrialisierung, Fabriken, Schichtarbeit, und daran, dass für alle die gleichen Regeln gelten, und diese Regeln einerseits eine Notwendigkeit sind und andererseits Zeichen von Respekt. Wer pünktlich, sauber und fleißig ist, darf bleiben.
Arbeit hat auch gelernt, später, dass in dieser Beziehung einer die Macht hat, nämlich sie, und der andere vom Gesetz Rechte zugestanden bekommt, die sie leider nicht verletzen darf. Arbeit darf sich nicht nach Belieben von Leuten trennen. Arbeit darf Leute nur bestimmte Zeit und zu bestimmten Bedingungen in Anspruch nehmen. Arbeit hat eine Menge Vorschriften, an die sie sich halten muss.
Das ärgert Arbeit. Arbeit will, dass ihre Partner verlässlich sind, kontrollierbar und effektiv. Arbeit legt Wert auf Respekt und Anstand, auf saubere Schuhe, Pünktlichkeit und Planbarkeit.
Arbeit weiß nicht, dass es eigentlich darum geht, dass sie erledigt wird. Arbeit kann das nicht messen. Arbeit misst andere Dinge.

Auf all diesen anderen Dingen versage ich auf voller Linie. Die "deutschen Tugenden" sind mir fremd. Ordnung und Sauberkeit bekomme ich noch hin, wo es nötig ist, in dem Maße, in dem es nötig ist, bei Pünktlichkeit hört es dann aber auf. Kann ich nicht. Geht nicht. Konnte ich noch nie. Und von Zuverlässigkeit haben Arbeit und ich ganz, ganz verschiedene Vorstellungen.
Ich übernehme gern für das Verantwortung, was ich tue. Mir liegt persönlich etwas an der Qualität der Dinge, an denen ich arbeite, und an der Erledigung der mir zugetragenen Aufgaben. Und wenn nachts um drei etwas daran kaputtgeht, komme ich nachts um drei und mache es wieder heile. Ich komme aber nicht morgens um sieben, wenn morgens um sieben nichts zu tun ist, was nicht auch mittags um elf getan werden könnte.

Und so streiten Arbeit und ich uns, immer wieder. Die meisten Regeln, die Arbeit aufstellt, sehe ich nicht ein. Ich arbeite, ich werde bezahlt - über alles andere wird gestritten. Arbeit behauptet, ich hätte ein Problem mit Autorität, ich sehe das anders. Hierarchien sind überall da nötig, wo Arbeit koordiniert werden muss, wo einer Aufgaben verteilt - in jedem Angestelltenverhältnis also. Ich akzeptiere die Entscheidungsmacht von Autorität, schon allein der Effektivität wegen, in dem Bereich, für den sie gilt. Also: ich lasse mir gerne vorschreiben, was ich tun soll. Ich lasse mir (manchmal widerstrebend) vorschreiben, wie ich es tun soll. In allem anderen behandle ich Arbeit wie einen gleichberechtigten Partner. Arbeit mag das nicht. Arbeit sieht das anders.

Dabei will ich Arbeit glücklich machen. Ich will stolz sagen "Alles fertig!" und hoffe auf ein "Gut gemacht!". Ich will es gut machen. Ich will es Arbeit so gut machen, dass sie mich nie vergisst, dass ich ihr neuer Maßstab werde, dass ich wertvoll, nützlich bin.
Arbeit und ich, wir hassen uns.
Ich sage "Alles fertig!" und Arbeit sagt "Du kommst zu spät, und deine Schuhe sind schmutzig." Und ich bin enttäuscht, und traurig, und wütend und beleidigt und verwirrt, denn was haben meine Schuhe damit zu tun? Und wie kann ich zu spät sein, wenn ich erledigt habe, was ich erledigen sollte?
Arbeit und ich, wir verstehen uns nicht.

Ich trenne mich. Mal wieder. Sicher nicht für immer. Aber ich weiß wieder ein Stückchen besser, was ich kann und was nicht. Meine Vorstellung von Arbeit deckt sich deutlich mehr mit der Tätigkeit eines freien Mitarbeiters als der eines Angestellten. Ich kann mit gesellschaftlichen Normen nicht umgehen, habe viele spezifische Wünsche und Einschränkungen. Ich bin oft krank, habe chronische Schlafstörungen, lebe immer ein wenig um meine Eigenheiten herum. Arbeit mag Eigenheiten nicht. Und ich kann das verstehen - all die Regeln, die einzuhalten mir schwerfällt, haben ihren Sinn und Nutzen. Ich kann keine Extrawürste erwarten, oder auch nur Verständnis. Für Arbeit bin ich eine ebensoschlechte Partie wie sie für mich.
In den letzten Monaten haben sich alle meine Wünsche, Hoffnungen, Hobbies und Aktivitäten reduziert auf Schlaf. Wenn ich nicht schlafe, versuche ich, meinen Schlaf vorzubereiten: zur richtigen Zeit das Licht zu dämmen, mit dem Hund rauszugehen, das richtige Maß an Aktivität und nachlassender Aktivität zu finden, um früh genug einzuschlafen. Es reicht einfach nicht. Ich gebe auf. Ich möchte mehr sein als jemand, der Arbeit hasst und nur an Schlaf denkt.

Was mache ich stattdessen? Hm, ich habe da diese Firma, deren Webseite ich mal fertigstellen sollte. Und ich verkaufe da dieses Kartenspiel. Ich kann ein paar Dinge. Ich weiß ein paar Dinge. Neben klassischer Arbeit gibt es noch eine Menge Nischen, die man sich suchen oder schaffen kann. Vielleicht gibt es ja Leute, die mit Menschen etwas anfangen können, die Aufgaben erledigen können und, hm, das Drumrum nicht. Ich mag es sehr, Dinge zu tun. Ich werde nicht aufhören, Dinge zu tun. Vielleicht blogge ich ja auch endlich mal wieder. Check.
08.02.2014

Warum ich mir wünsche, dass Gender irrelevant wird

Das Schöne am Internet ist, dass der folgende Satz für manchen Leser möglicherweise überraschend kommt: ich habe zwei X-Chromosomen.

Das Konzept "Frau", das soziale Konstrukt, passt nicht zu mir. Es steht mir einfach nicht. Es hängt formlos an mir herab, kneift an anderen Stellen, fühlt sich hässlich und unangemessen an. Ich möchte es nicht tragen, nicht als Identität und nicht als Label. Das soll nicht heißen, dass es schlecht ist - es ist nur nicht meins.

Nun bin ich mit zwei X-Chromosomen geboren, und daran lässt sich nichts drehen. Ich bin weiblich sozialisiert: wir lernen durch Feedback, und Menschen haben mein Leben lang auf mich als Frau reagiert - als würde ich dieses Kostüm freiwillig tragen, als hätte ich es mir ausgesucht, würde ein Statement damit abgeben. Ich kann das nicht abschalten oder ungeschehen machen. Ich kann nicht einfach die Seite wechseln und so tun, als sei das nie passiert. Ich gäbe sicher auch keinen allzu guten Mann ab, weil mir darin die Übung fehlt.

Der Name Klaus hat mir an dieser Stelle sehr geholfen. Er distanziert mich von der physischen "Frau"-Verkleidung, sorgt dafür, dass Menschen mich in einen anderen Kontext setzen. Da ich nicht überzeugend als Mann auftreten kann, befördert mich der Name allein nicht auf die andere Seite - aber das muss er auch nicht. Er genügt, um mich auf diesem Spektrum an einen gemütlicheren Ort zu setzen. Ich disqualifiziere mich als Vertreter eines bestimmten Geschlechts, und statt mich sofort klassifizieren zu können, bleibt für andere eine Lücke dort, wo sie sonst das Geschlecht markieren. Das kann zunächst verunsichernd und unangenehm sein. Das Gefühl, dass dort etwas stehen müsste und es eine binäre Antwort braucht, betrifft viele Menschen, auch die, die offen und wohlmeinend sind. Das ist okay. Es ist auch okay, wenn es eine Weile dauert, bis man sich an die Lücke gewöhnt hat. Ich finde es auch nicht problematisch, wenn Menschen dort etwas eintragen, das ich nicht so angeben würde - Menschen dürfen von mir denken, was sie wollen, und sie dürfen mich auch als zu einer Gruppe zugehörig empfinden, der ich mich nicht selbst zuordne. Ich bin unempfindlich, was Pronomen angeht - er, sie, es, egal. Wenn man bedenkt, dass jede Katze zunächst eine "sie" ist und jeder Teppich ein Mann, ist das pure Grammatik und hat mit Geschlecht weder im biologischen noch sozialen Sinn zwangsläufig etwas zu tun. Aber dort, wo meine Gesichtsform, Stimme und Figur "Frau" sagen, wirft der Name Klaus diese Schlussfolgerung aus der Bahn. Er zwingt andere, einen Schritt zurückzugehen, neu zu denken, im Idealfall: die Zuordnung ersatzlos zu streichen. Es ist doch auch egal.

Klaus begleitet mich seit der neunten Klasse, ich fühle mich darunter angesprochen. Werde ich Klaus genannt, bin ich gemeint. Mein Geburtsname ist wie ein unangenehmer Spitzname, unter dem ich innerlich immer ein wenig zusammenzucke, aber es nicht wage, es Leuten übelzunehmen, ihn zu verwenden. Im beruflichen Umfeld ist das schwierig, umso konsequenter bin ich im Privaten - meinen bürgerlichen Namen rücke ich, sofern es vermeidbar ist, gar nicht erst heraus. Ich möchte Leuten nicht Gelegenheit zu geben, ihn mir der Bequemlichkeit halber anzuheften, um ein Umdenken, ein Innehalten zu umgehen.

Meine ideale Welt sieht vor, dass Geschlecht im Sinne von Gender keine Rolle spielt, gar nicht existiert. Das biologische Geschlecht ist eigentlich nur relevant für Fragen der Fortpflanzung und ob man Tampons kaufen muss. Und es kann bei der Partnerwahl eine Rolle spielen: viele Menschen haben Vorlieben, was die Beschaffenheit der Geschlechtsorgane ihrer Partner angeht, fühlen sich oft nur zu einer bestimmten Konfiguration hingezogen, erwarten Konsistenz in Pheromonen, Körperbau und Genitalien. Und sonst?

Geschlecht im Gendersinne jedenfalls hat meiner Ansicht nach keinen erkennbaren Nutzen und auch keine tatsächliche Bedeutung - dazu sind die Überschneidungen derer, die das eine oder andere Label verwenden in den Merkmalen, für sie sie es verwenden, einfach zu groß. Wenn die Frage nach den Unterschieden zwischen Männern und Frauen gestellt und ein messbarer statistischer Unterschied als natürlich dargestellt wird, dann bleibt immer offen, woher die Kontrollgruppe kommt, anhand derer man das beurteilen könne. Welchen Einfluss die Jahrtausende Sozialisierung und Prägung, die Stereotype und geschlechtsabhängige Erziehung haben, lässt sich erst dann zweifelsfrei zeigen, wenn man eine in jeder anderen Hinsicht gleiche Kultur findet, die solche Unterschiede nicht kennt.

Derlei Utopien sind allerdings nutzlos. Für die meisten Menschen ist das Geschlecht ein integraler Bestandteil der Identität und eins der ersten Merkmale, anhand derer schon Kinder einander sortieren und voneinander abgrenzen. Ich halte es für möglich, dass es der frühesten Identitätsbestandteil überhaupt ist. Wir werden uns immer definieren über Merkmale, die wir schnell und in der Regel eindeutig identifizieren können. Es wird immer eine Antwort erwartet auf die Frage "Junge oder Mädchen", und es wird auch immer jemanden geben, der die Frage stellt. Und solange werde ich leise seufzen, hoffen, dass das Drama ausbleibt, und antworten: "Nein".


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