Das Klaus

Gesammelte Werke

21.05.2013

Warum ich der MV-Mailingliste den Rücken kehre (mit Statistik!)

Ich lese die MV-Liste jetzt seit dem 6. Juli 2012, die von Rostock einen Monat länger. In dieser Zeit habe ich 76 Mails in 33 Themen geschrieben und bin der 19.-produktivste Schreiber dieses Jahres. Von den 3458 Mails seit Januar habe ich über 2000 tatsächlich gelesen. Ich habe die ML als Informationsquelle schätzen gelernt: Man bekommt Ankündigungen, Veranstaltungen, Themen, die gerade aktuell sind, bequem ins Emailpostfach und kann sie jederzeit nachlesen. Als Ergänzung zu Stammtischbesuchen ist sie damit sehr wichtig (insbesondere, da unsere Öffentlichkeitsarbeit diesen Punkt nicht abdeckt – diese Dinge würde ich gerne auch über Twitter, Facebook, die Webseite, den Kalender erfahren, bin aber auf die ML angewiesen, um auf dem Laufenden zu sein.)
Was die Mailingliste aber nicht ist: Ein geeignetes Medium für Diskussionen oder produktive Arbeit.

Warum?

Sie ist nicht repräsentativ.

30% des Emailaufkommens wurde von vier Leuten verfasst. Die zehn häufigsten Schreiber sind verantwortlich für mehr als die Hälfte aller Emails – und das bei über 140 verschiedenen Absendern insgesamt. Unter den wenig bis gar nicht Schreibenden sind Menschen, die ich vom Stammtisch, Parteitagen oder Aktionen kenne. Es ist also anzunehmen, dass auch in anderen Städten und Kreisen Aktive sind, die die Mailingliste kaum oder gar nicht nutzen. (Deren Meinung ist also dort so gut wie nicht vertreten.) Sobald es tatsächlich zu inhaltlicher Auseinandersetzung mit Themen kommt, liest man die immer gleichen Leute.
Ja, dabei kommt es zum Austausch von Argumenten. Unter anderem. Repräsentativ für die Meinung der Basis ist das jedoch nicht.

Sie ist unfreundlich.

Unter den Vielschreibern sind Menschen, die sich hauptsächlich unsachlich, themenfremd oder wenig zielführend äußern. Das hilft nicht dabei, eine offene Diskussionskultur zu schaffen. Jedes längere Thema enthält Beiträge, die die Berechtigung der Diskussion in Frage stellen (und damit diese Debatten länger am Leben erhalten). Regelmäßig wird Menschen die Verteilung ihrer Aufmerksamkeit vorgeworfen – dass sie sich mit bestimmten Dingen beschäftigen, oder mit bestimmten anderen Dingen nicht. Das ist destruktiv. Dazu kommen auch immer wieder Unterstellungen, offene und weniger offene Beleidigungen und zum Teil absurde Spekulationen über heimliche Hintergedanken einzelner Standpunkte.
Es gibt eine Menge Beiträge, die stehen irgendwo dazwischen: Nicht ganz sachlich, schlecht oder gar nicht begründete Argumente und Meinungen, die ich weder teile noch nachvollziehen kann. Das ist okay. Angriffe auf andere Teilnehmer der Diskussion, Unterstellungen: Nicht okay.
Der Appell hat eine zeitlang dazu geführt, dass insgesamt weniger geschrieben wurde, dass sich viele Äußerungen des lieben Friedens willen einfach verkniffen wurden, und dass manche Dinge lieber direkt angesprochen wurden als für alle auf der Liste. Das hat sehr gut getan. Auf der Unterzeichnerliste fehlen mir jedoch einige Leute, die ich dort sehr gerne gesehen hätte, und zwei Menschen sind ohne Begründung vom Appell zurückgetreten. Damit ist unklar, ob das ein vorübergehender Effekt war oder nicht. Ich für meinen Teil werde mich weiterhin bemühen, ihn einzuhalten – die beschriebenen Verhaltensversprechen sind eine gute Richtlinie für jede Kommunikation. Nicht nur für Unterzeichner, nicht nur auf der Mailingliste, nicht nur unter Piraten.

Sie macht hilflos.

Die Mailingliste hat keinerlei regulierenden Mechanismen, um mit diesen Problemen umzugehen. Sie wird nicht moderiert. Beiträge können nicht mehr gelöscht oder editiert werden. Emails sind öffentlich im Sync-Forum – jedes über-die-Stränge-Schlagen ist für alle Zeiten nachlesbar.
Es heißt, man solle Trolle nicht füttern. Unwahrheiten oder Angriffe unkommentiert in aller Öffentlichkeit stehenzulassen kann aber auch nicht die Lösung sein. Denn es gibt etwas, was man immer leicht vergisst: Trolle wissen nicht, dass sie Trolle sind. Es mag Menschen geben, die bewusst Diskussionen sabotieren und Menschen schaden wollen. In aller Regel passiert das jedoch durch Menschen, die nicht wissen was sie tun, oder sich im Recht sehen. Wie überall gilt jedoch auch hier: Etwas kaputtzumachen ist sehr viel leichter als etwas aufzubauen. Dieses destruktive Klima hemmt den ganzen Landesverband, vergrault potentielle Unterstützer und vertreibt produktive Mitglieder. Der vielgerühmte Flausch ist hier Teil des Problems: Er versucht, Dinge unter den Teppich zu kehren, unterbindet Kritik, egal wie sie geäußert wird und schützt unprofessionelle Strukturen, die nicht funktionieren.
Das soll nicht heißen, dass es gar kein Eingreifen gab, wenn etwas aus dem Ruder lief: Von einzelnen Mitgliedern (und auch schon mal vom Vorstand in sehr löblicher Manier) gab es immer mal wieder (wenn auch nicht oft genug) Hinweise darauf, wenn das Thema verfehlt wurde, der Tonfall problematisch war oder ein Beitrag versucht hat, eine Diskussion zu diskreditieren. Genützt hat es oft gar nicht und nie nachhaltig.

Sie blickt auf Interna herab.

Jedes Thema, dass sich mit den inneren Angelegenheiten der Partei befasst, wird als Selbstbeschäftigung abgetan und bekommt meist sehr schnell einen Beitrag der Sorte „habt ihr nichts Besseres zu tun?“. Mit dieser Begründung könnten wir die Partei eigentlich sofort auflösen: Eine Organisation muss sich organisieren. Und in jeder Organisation gibt es Menschen, die sich mehr damit befassen, wie sie organisiert ist, als mit ihrem eigentlichen Zweck. Und das ist gut so. Denn gute Organisation dient dazu, Handlungsfähigkeit herzustellen und es so einfach und produktiv wie möglich zu machen, dass sich Menschen in ihr engagieren. Wem persönlich das Interesse daran fehlt, muss sich damit nicht auseinandersetzen. Wieder und wieder wird an solchen Stellen jedoch blockiert.
Die Beteiligung gibt mir an dieser Stelle recht: Von den 25 Themen, die dieses Jahr mehr als zwanzig Mails erreicht haben, waren 19 (!) Interna. Und nur am Rande: Viele Kernthemen der Piratenpartei betreffen das „Wie“ der Politik und nicht das „Was“. Die Forderung nach Transparenz, mehr Basisdemokratie, mehr Mitbestimmung und Barrierefreiheit: Was sind diese Themen, wenn nicht Ansprüche an die Art und Weise, auf die Demokratie gelebt wird? Damit sind viele dieser Interna auch gleichzeitig Inhalte – und wahlkampfrelevant. Ein fortschrittliches innerparteiliches Wahlsystem oder eine ständige Mitgliederversammlung, die auch Programm beschließen kann, können Vorbildwirkung dafür haben, wie wir uns Politik auch außerhalb unserer Partei vorstellen. Und das zieht ebenso Wähler an wie unsere anderen Inhalte.

Sie überzeugt ja doch niemanden.

Ich frage mich oft, ob Argumente je jemanden überzeugt haben. Die Mailingliste ist ein gutes Beispiel dafür: Selbst wenn alles bereits gesagt wurde, streiten Einzelne weiter und weiter, wiederholen sich und degenerieren in Emotionsargumente oder Zirkelschlüsse („das ist doof, weil doof“). Die Liste zeigt sich dabei oft erstaunlich faktenresistent.
Die Möglichkeit zum Austausch von Argumenten und zur Begründung von Standpunkten ist wichtig. An sich. Die Liste schießt darüber regelmäßig weit hinaus und ist (siehe „nicht repräsentativ“) bestenfalls ein Zerrbild der Meinungen im LV.

Fazit: Ist das Politik oder kann das weg?

Ich werde die Mailingliste weiter lesen. Sporadisch. Denn informieren über aktuelle Veranstaltungen, Ausschreibungen, Anträge, Beschlüsse und Themen tut sie mich weiterhin. Auf den Diskurs-Teil kann ich jedoch getrost verzichten.
LiquidFeedback bietet die Möglichkeit, über Begründungen, Anregungen und Alternativanträge Argumente aufzulisten und mitzuteilen. Seit einiger Zeit sind auch Abstimmkommentare möglich, so dass die eigene Entscheidung mit einer Stellungnahme versehen werden kann. Auf Realversammlungen werden Anträge zusätzlich mündlich vorgestellt. Fragen an Antragsteller kann man ebenso immer stellen – ob per Email, Anregung oder mündlich. Über das Für und Wider von Entscheidungen kann ich auf dem Stammtisch reden, den Kontakt zu Menschen außerhalb auch über andere Kanäle suchen.
Ich habe in meinem einen Jahr Partei Menschen brennen sehen für ihre Sache, für unsere Ziele. Ich habe auch Menschen ausbrennen sehen. Ich selbst will mir das nicht geben. Für meine Meinung kann ich auch anderswo einstehen – in meinem Blog, auf Twitter, in persönlichen Gesprächen, im Wahlkampf und an Infoständen.
Mein Ja zur Partei, zu unserem Programm steht und bleibt unberührt. Der Mailingliste MV als Medium, das ich aktiv nutze, sage ich Tschüß.
16.03.2013

Ein zeitgemäßeres Bildungssystem

Denke ich so an meine Schulzeit zurück, fallen mir eine Reihe Kritikpunkte wieder ein, die über ein pubertäres "Schule ist doof" hinausgehen und die ich heute noch unterschreiben könnte. Sie bilden für mich die Grundlage auf der ich nach anderen Lösungen suche, da ich als Lehrerkind eigentlich immer versucht habe, Schule zu mögen. Es ist mir nicht gelungen. Das liegt zum Teil natürlich auch an spezifischen Umständen (Lehrern, Mitschülern, oh, was sind denn das für Hormone plötzlich?), aber zum Teil auch an externen Gegebenheiten, die ich als Design-Fehler betrachte.

1. Der Unterricht beginnt viel zu früh.

Dass dies an erster Stelle kommt, hat mehr mit meiner Veranlagung als schlafgestörte Nachteule zu tun als mit der Priorität, die ich für andere sehe. Fakt bleibt aber, dass Schlafforscher, Neurologen, Ärzte schon lange gleichermaßen über den frühen Unterrichtsbeginn klagen. Zwar gibt es im Schlafrhythmus individuelle Unterschiede und kann man sich auf frühe Aufstehzeiten üblicherweise durch schlafhygienische Maßnahmen (das heißt wirklich so und bedeutet: früh ins Bett gehen, Tagesablauf strukturieren, sich tagsüber bewegen und Einschlaf- und Aufstehroutinen entwickeln) einstellen, ein dauerhaft dem Biorhythmus nicht entsprechender Tagesablauf macht aber krank, unkonzentriert und führt nicht gerade dazu, dass Schüler gern zur Schule gehen. Mit Eintritt in die Pubertät verändern sich auch die Schlafgewohnheiten - dass Jugendliche überproportional Langschläfer sind, ist hinreichend belegt (oft bildet sich das wieder zurück - "wächst sich" also "raus" - allerdings nicht vor Ende des Schulalters).

2. Klassenverbände.

Klassenverbände sollen eine Bezugsgruppe für Schüler bilden, das sehe ich ein. Schule ist auch kein Einzelunterricht, schon allein daher müssen Schüler in Gruppen zusammengefasst werden. Das Konzept des starren, unveränderlichen Klassenverbands ist darauf ausgelegt, Schüler in Gruppendynamikprozesse einzubinden zur Entwicklung von Sozialkompetenzen. Wie gut das funktioniert, zeigen Mobbingstatistiken. Um ein tatsächliches "Wir"-Gefühl zu erzeugen, das alle einbezieht, reicht das Setzen in einen Klassenraum und die Ausrichtung einer Klassenfahrt alle paar Jahre jedoch nicht aus. Man wird blind in eine Gruppe geworfen mit Menschen, die zufällig aus der gleichen Gegend im gleichen Alter sind - ich finde das keine ausreichende Begründung, um der Klasse als solche so viel Bedeutung beizumessen, wie es getan wird. An Grundschulen setzen sich jahrgangsübergreifende Klassen langsam durch - der starre, unantastbare Klassenverband an weiterführenden Schulen bleibt jedoch bestehen. Das muss nicht heißen, dass dauerhafte Jahrgangsmischung der Weg zu Weltfrieden und ewigem Glück ist, sondern kann auch durch Mischformen und Kursunterricht erreicht werden.

3. "Und wozu muss ich das jetzt wissen?"

Bildungsinhalte sind oft stark entkoppelt von ihrer reellen Anwendung. Oft wird auf blindes Auswendiglernen statt auf die Vermittlung von Fähigkeiten und das Verständnis von Konzepten gesetzt. Ich erinnere mich gut an einen Biologietest zu Genetik, in dem Punkte für Fragen wie "In welchem Jahr trat Darwin seine Seereise an, wie hieß das Schiff und auf welchen Inseln machte er seine Beobachtungen an Finken?" vergeben wurden. Solche Informationen sagen nichts über meinen Wissensstand, sondern ausschließlich über meine Gedächtnisleistung. Darüber hinaus haben sie auch nichts mit Biologie zu tun und sind jederzeit nachschlagbar. Natürlich können die Lehrpläne erst einmal nichts für die Testfragen meiner damaligen Biologielehrerin, dieses Verhalten ist aber kein Einzelfall. Übervolle Lehrpläne fordern zum Einpauken auf, nicht zum Verstehen.

4. "Das brauch ich doch nie wieder!"

Allgemeinbildung ist eine schöne Sache - wenn es jedoch um Spezialwissen geht, das kaum jemand über die Schule hinaus behält, geschweige denn anwendet, sollte überlegt werden, es aus dem Pflichtlehrplan zu streichen. Mehr Auswahl in Lerninhalten, eine generell flexiblere Gestaltung von Schule könnte verhindern, dass sich zukünftige Übersetzer mit Integralrechnungen und zukünftige Ingenieure mit einer zweiten Fremdsprache herumschlagen müssen. Diese Dinge gehören unbedingt in das Angebot der Schulen - aber sind sie wirklich unerlässlich für jeden, der ein Studium anstrebt, egal in welchem Bereich? Natürlich sollte eine solide Grundbildung vermittelt werden, in jeder Schulform und in jedem Fach, aber Lehrpläne schießen über dieses Ziel oft hinaus (nicht nur durch die Inhalte, auch durch das Ausmaß, in dem sie in die Tiefe gehen), mit dem Ergebnis, dass ein Großteil des vermittelten Wissens schnellstmöglich wieder vergessen wird, um Platz für die nächsten Inhalte zu schaffen.

5. Mangelnde Flexibilität

Viele Ansätze zur Integration von "Problemkindern", seien es sozial schwache, lernbehinderte, körperbehinderte, Schulverweigerer, Hochbegabte, Nichtmuttersprachler oder Teilleistungsschwache, gehen davon aus, dass es sich (jeweils) um Einzelfälle handele, die in eine "normale" Klasse zu integrieren sind. Nicht nur sammeln sich Sonderfälle jeglicher Art in sozialen Brennpunkten, auch die allgemeine Verteilung von Kindern mit besonderen Bedürfnisse wird unterschätzt. Zählen wir die oben aufgeführten Gruppen mal zusammen, kommen wir zum Schluss, dass mit so ziemlich jedem Kind irgend etwas nicht stimmt, und unter den Gruppen gibt es auch noch Überlappungen. Die "normalen" Schüler, die die "schwierigen" ausgleichen sollen, gibt es nicht, jedenfalls nicht in einer beliebig belastbaren unerschöpflichen Menge. Das System selbst muss in der Lage sein, auf Andersartigkeit einzugehen, anstatt zu hoffen, dass der Lehrer und Klassenverband das Kind schon irgendwie ins übliche Muster gepresst bekommen.

Die Lösung: Vollverkursung

Genug gejammert: auf die meisten dieser Schwierigkeiten gibt es eine einfache Antwort: die Einführung eines Kurssystems. Was ist das? Jedes Fach in jeder Klassenstufe stellt einen Kurs dar. Es gibt Pflicht- und Wahlkurse, und nicht alle Schüler einer Klasse müssen die gleichen Kurse besuchen. An gymnasialen Oberstufen wird dieses System zum Teil verwendet, in anderen Schulformen gibt es, wenn's hochkommt, vielleicht ein Wahlpflichtfach, bei dem man eine Auswahl hat.
Warum wäre das gut? Da wären zunächst einmal die Klassenverbände: Schüler lernen schneller und besser in homogenen, entwickeln aber besseres Sozialverhalten in heterogenen Gruppen. Eine Verkursung eröffnet hier Möglichkeiten, beides zu bieten: Besonders in den Kernfächern könnten die Schüler nach Leistungsniveau eingeteilt werden, sind aber in anderen und für Klassenveranstaltungen in ihrer heterogenen Gruppe eingebunden. Schüler mit Teilleistungsschwächen oder Teilbegabungen können ihr Potential ausschöpfen, ohne auf allen anderen Gebieten unter- oder überfordert zu werden. Auf besondere Bedürfnisse kann schon strukturell eingegangen werden - die Schule muss nicht mehr ausschließlich um den Sonderbedarf "drumherumarbeiten". Das kann Lehrern sehr viel Arbeit ersparen und wirkt der Ausgrenzung von Einzelnen entgegen. Ein Kurssystem könnte den Weg freimachen für flexiblen, individuellen Unterricht bei gleichbleibendem Aufwand für Lehrer und Verwaltung.
Bislang lässt sich der Unterricht für Einzelne nur durch Wechsel der Schulform, Sitzenbleiben, Überspringen von Klassen oder durch Nachhilfeunterricht anpassen. Angemessene Förderung gibt es nur in Spezialklassen oder außerschulischen Extrastunden. Das kann sich ändern.
Ich will nun nicht zu viel auf einmal fordern, aber die Möglichkeiten gehen noch weiter: ein langsamer Lerner könnte im Jahr weniger Kurse besuchen und durch Verlängerung der Gesamtschulzeit trotzdem einen guten Bildungsabschluss erreichen. Das ist auch für Schüler wichtig, die besonderen außerschulischen Stress haben, z.B. durch Leistungssport - das CJD in Rostock z.B. verfügt über einen Sportlerförderzweig, der in neun Jahren statt acht zum Abitur führt und den Sportlern dadurch ermöglicht, ihren Trainingsplan einzuhalten und zu Wettbewerben zu fahren, ohne auf einen guten Bildungsabschluss verzichten zu müssen.
Auch der zweite Bildungsweg könnte dadurch mit deutlich weniger Hürden verbunden sein - es wäre möglich, Leistungen in einzelnen Fächern nachzuholen und so seinen gewünschten Bildungsabschluss zu erlangen, ohne Jahre der Wiederholung auf sich zu nehmen.
In meiner Wunschvorstellung ist jeder belegte Kurs in jedem Jahr oder Semester eine Art Abschluss - Arbeitgeber könnten statt nach Abitur zum Beispiel nach bestimmten Kursen in bestimmten Fächern fragen, einzelne Fächer hätten ebenso bestimmte Zugangsvorraussetzungen (Physik 8 erfordert Mathematik 5, oder Ähnliches). Die jeweiligen Inhalte könnte man auch in unterschiedlichen Geschwindigkeiten vermitteln - es könnte einen Physik-8-Kurs halbjährig oder ganzjährig geben, so dass ein schneller Lerner seinen Bildungsabschluss früher erreichen könnte, ohne dass die erforderlichen Stunden seine gesamte Freizeit verschlingen. Das ist allerdings Zukunftsmusik und muss an anderer Stelle erläutert werden.
Wichtig ist: Es sollte möglich sein, unterschiedliche Fächer auf unterschiedlichen Leistungsniveaus zu belegen. Denn dass unser dreigliedriges Schulsystem in der Praxis stärker nach sozialer Herkunft als nach den Fähigkeiten der Schüler sortiert, ist leider umfassend untersucht und bekannt. Auch wandern sehr viel mehr Schüler von einer höheren Schulform in eine niedrigere als umgekehrt. Wenn man die Schwellen für die Anpassung von Lernzielen auf den einzelnen Schüler senkt, kann man hier vielleicht entgegenwirken. Selbst das Wiederholen ganzer Klassen würden unnötig, ohne dass Schüler in einzelnen Fächern komplett den Anschluss verlieren, weil zu viele Grundlagen fehlen.
07.03.2013

Ockhams Rasiermesser, oder: Von Absichten und ihrer Seltenheit

Ich bin der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ich würde sogar soweit gehen, zu sagen, dass ich das Zentrum des von mir wahrgenommenen Universums bilde. Ich denke auch, das ist weder eitel noch arrogant, sondern normal. Nun geht das aber vermutlich nur mir so. Ich kann nicht von anderen erwarten, mich im Zentrum ihres Lebens zu sehen, denn da steht üblicherweise schon jemand anderes - sie selbst. Das bedeutet aber auch, dass vermutlich niemand so viel über mich und Dinge, die mich betreffen, nachdenkt wie ich. Daher unterstelle ich üblicherweise Unabsichtlichkeit.

Wenn beim Pizzaessen in einer Gruppe kein Stück meiner Lieblingspizza übrig bleibt, weil ich auf Toilette war, als die Pizza ankam, dann könnte ich annehmen, dass mir die anderen nichts gönnen, oder mich ärgern wollten, oder IHR SCHWEINE IHR WISST DOCH DASS ICH THUNFISCH MAG! Tatsächlich aber ist die wahrscheinlichste Antwort Unabsichtlichkeit. Vermutlich hat niemand an meine speziellen Vorlieben gedacht. Noch wahrscheinlicher: mein Lieblingsessen ist für niemanden außer mich sonderlich relevant - selbst wenn ich Präferenzen erwähnt habe, wird sich kaum jemand daran erinnern. Vielleicht lag die Thunfischpizza obenauf.
Insgesamt gehe ich glücklicher durchs Leben, wenn ich pauschal erst einmal Unabsichtlichkeit unterstelle, weil ich mich dann nur über doofe Pizza und nicht über wahrgenommenes Mobbing ärgern muss, unabhängig davon, was tatsächlich die Gründe für meine Thunfischlosigkeit waren. Auch ist unterstellte Unabsichtlichkeit eine gute Denkübung: man sollte von jeder Sache, die wert ist, betrachtet zu werden, nach mehreren Erklärungsmöglichkeiten suchen. Das gilt nicht nur für Pizza.

Verschwörungstheorien haben gegenüber anderen Theorien (eher: Hypothesen) einige Alleinstellungsmerkmale. Zum einen werden Gegenbeweise als Argumente *für* die Theorie ausgelegt (dass die Presse nicht von Aliens unter uns berichtet, ist ein Beweis dafür, dass die Aliens die Presse kontrollieren, und nicht etwa dafür, dass es sie nicht gibt (die Aliens, nicht die Presse)). Weiterhin ist in der Regel jemand schuld (die CIA! Die Juden! Die Bilderberg-Konferenz!) - das bedient vor allem Wunschdenken und macht es angenehm, daran zu glauben. Und zu guter Letzt gibt eine gute Verschwörungstheorie eine einleuchtende, in sich geschlossene Erklärung, die haarsträubend unnötig kompliziert ist.

Ockhams Rasiermesser (auch: Prinzip der Parsimonie) besagt, dass die einfachste Erklärung (die, die mit den wenigsten Variablen und Grundannahmen auskommt) die wahrscheinlichere ist. Unterstellen wir grundsätzlich Unabsichtlichkeit, lassen sich die meisten Vorgänge mit einem einfachen "das ist von ganz allein so passiert" erklären - wobei "von ganz allein" nicht mit "zufällig" gleichzusetzen ist. Denn dass die Thunfischpizza zuerst alle ist, muss kein Zufall sein - möglicherweise ist es die einzige, die nicht angebrannt ist, oder es handelt sich bei Thunfisch allgemein um einen überlegenen Geschmack (meine bevorzugte Hypothese). Aber äußerst unwahrscheinlich ist, dass sich Menschen, die ich immerhin genug mag, um Pizza mit ihnen zu teilen, sich gegen mich verschworen haben, oder dass einzelne Fadenzieher im Hintergrund mein Pizzageschick lenken.

Wer glaubt, dass es einen Schuldigen braucht, um gesellschaftliche Phänomene zu erklären, spricht nicht nur den Individuen, die an ihnen beteiligt sind, ihre Agenda ab, sondern ist vor allem eins: unkreativ. Alles, was getan wird, ergibt für den, der es tut, in dem Augenblick, in dem es getan wird, einen Sinn. Dieser Sinn bezieht sich aber auf die handelnde Person, nicht auf den Außenstehenden, auf den das Handeln einen Einfluss hat. Ergo: Wer meine Thunfischpizza isst, denkt dabei an seinen eigenen Appetit, und nicht an meinen. Die Unfähigkeit, über den Tellerrand (höhö) zu blicken, lässt den Betrachter zu falschen Schlüssen gelangen, wenn er die Wichtigkeit, die er für sich selbst hat, auch anderen unterstellt.

Verschwörungstheorien beinhalten fast ausnahmslos unterstellte Absicht. Dahinter verbergen sich in der Regel mehrere Gedanken. Zum einen: "Da steckt noch mehr dahinter!" - der Unglaube, dass individuelle, voneinander unabhängige Prozesse zu einem Ergebnis geführt haben. Zum anderen: "Das richtet sich gegen mich/uns alle/jemanden!" - der Gedanke, dass man selbst eine Rolle spielt im Entscheidungsprozess anderer.

Ich komme zu dem Schluss, dass Wahnideen sich (unter anderem) auf Eitelkeit stützen. Wenn jemand erklärt, dass einzelne Menschen viel Mühe auf sich genommen haben, um andere Menschen zu beeinflussen, Dinge zu tun, die wiederum anderen Menschen schaden, obwohl es genug Gründe gibt, aus denen diese anderen Menschen diese Dinge ohnehin hätten tun wollen, dann möchte ich ihn gerne in den Arm nehmen und sagen: "Du bist wichtig. Ich denke an dich." Vielleicht hilft's ja.


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