Das Klaus

Gesammelte Werke

11.07.2013

Selbstlügen der Piratenpartei: Mitbestimmung, Beteiligung, Basisdemokratie

Wir sind die mit den Fragen, ihr die mit den Antworten.

Schon lange schreibt sich die Piratenpartei mehr Bürgerbeteiligung, mehr Demokratie wagen, mehr Mitbestimmung auf die Fahnen. Das ist ein schönes Ziel, mit dem wir uns gegen die Ellenbogengesellschaft in starren Hierarchien und die Delegiertensysteme anderer Parteien abgrenzen wollen und Bürgern mehr Einfluss in das Politikgeschehen geben wollen. Der Grundgedanke, dass man von unten mehr Einfluss nehmen können soll auf die Dinge, die oben beschlossen werden, ist eine prima Sache - leider führt das oft zu Verwirrung und Unklarheiten, was Zuständigkeiten angeht und was das denn im Einzelnen für uns bedeutet. Ich drösele daher hier mal ein paar häufige Streitquellen auf und lege dar, was ich unter mehr Beteiligung verstehe. Wie immer spiegelt dieser Post nur meine Meinung und keine unumstößliche Wahrheit wieder.

Recht und Anspruch

Ein Recht bedeutet nicht dasselbe wie einen Anspruch auf etwas zu haben, und auch Rechte sind oft an etwas gekoppelt. Zum Beispiel hat jedes Mitglied der Partei das Recht, an einem Parteitag teilzunehmen und dort sein Rederecht auszuüben. Das bedeutet nicht, dass es einen Anspruch darauf gibt, denn: wenn ich mir das Bein breche und nicht mobil bin, kann ich nicht erwarten, dass ich persönlich abgeholt und kostenfrei hingefahren werde. Wenn ich versuche, den Parteitag anzuzünden, kann mir Hausverbot erteilt werden. Und wenn ich etwas sagen möchte, die Versammlung aber beschlossen hat, die Rednerliste zu schließen, dann kann ich nicht öffentlich sprechen. Wenn ich meine Redezeit für themenfremde Äußerungen nutze, kann die Versammlungsleitung mir das Wort entziehen. Wenn meine Redezeit um ist, werde ich möglicherweise nicht alle Gedanken los, die ich äußern wollte. Wenn ich meinen Mitgliedsbeitrag nicht zahle, bin ich nicht stimmberechtigt. Und wenn ich zum Parteitag krank werde, kann ich nicht kommen, so schade das ist.
Das betrifft viele Rechte, die ich als Bürger oder Parteimitglied habe. Auch das Antragsrecht, das Recht, sich zu Wahlen aufstellen zu lassen, das Recht, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen - keins davon stellt einen Anspruch dar. Der Unterschied: für die Ausübung meiner Rechte bin ich selbst verantwortlich. Für die Umsetzung eines Anspruchs sind es andere.
Das gilt übrigens auch für das gern zitierte Recht auf freie Meinungsäußerung: ja, ich darf sagen, was ich will. Niemand aber muss mir dafür eine Plattform bieten oder mir auch nur zuhören, und jeder darf wiederum seine Meinung dagegenhalten - auch, wenn diese Meinung daraus besteht, dass ich die Klappe halten solle. Eingeschränkt wird die Meinungsfreiheit auch durch die Rechte anderer: Ich darf nicht zu Straftaten auffordern, ich darf nicht beleidigen. Da werden meine Rechte ja schon einmal ganz schön beschnitten, und das vollkommen zu Recht.

Barrierefreiheit und Hürdenabbau

Überall da, wo Einschränkungen nicht absichtlich bestehen, sondern mit einem "leider" versehen sind, greift der Wunsch nach niedrigen Hürden und Barrierefreiheit. Hier muss man außerdem zwischen "fair" und "gerecht" unterscheiden. Dass ein Blinder nicht-digitale Texte nicht selbst lesen kann, ist schade. Fair wäre es, allen anderen die Augen zu verbinden. Gerecht wäre es, Screenreader und alle wichtigen Texte digital zur Verfügung zu stellen. Chancengleichheit ist nicht herstellbar - Menschen sind verschieden und bringen unterschiedliche Voraussetzungen mit. Was wir anstreben, ist Chancengerechtigkeit: unfaire Hürden senken, Barrieren abbauen, wo es geht. Das geht immer mit einer Kosten-Nutzen-Abwägung einher. Eigentlich alles, was man tun muss, um möglichst viele Menschen einzubinden, kostet entweder Zeit oder Geld, oder Zeit, die man Menschen bezahlen muss.

Holschuld und Bringschuld

Was also ist wessen Verantwortung, um Rechte möglichst frei ausüben zu können? Grundsätzlich einmal kann man verlangen, dass es überhaupt möglich ist, Rechte wahrzunehmen. Darum müssen zum Beispiel Parteitage rechtzeitig angekündigt werden, Akkreditierungsmöglichkeiten bestehen und Wege, Anträge einzureichen. Sind solche Grundvoraussetzungen nicht erfüllt, ist das Recht kein Recht mehr, sondern ein leeres Versprechen. Was man sich nur wünschen, aber nicht verlangen kann, ist, dass es einem leichter gemacht wird und Ausnahmen bedacht werden. Für Parteitage heißt das: Rollstuhlrampen, Gebärdendolmetscher, Übersicht über preiswerte Übernachtungsmöglichkeiten, ein übersichtliches Antragsbuch, Verpflegung auf dem Parteitag, Internetanschluss, genügend Sitzplätze, gute Belüftung, Licht und Tontechnik, die den jeweiligen Sprecher klar verständlich macht. Viele dieser Dinge sind als Selbstverständlichkeit anzusehen und können guten Gewissens gefordert werden. Sie sind aber nicht unbedingt Bestandteil des Rechts. Es ist Aufgabe des Teilnehmers, sich um die Ausübung seines Stimm-/Rede-/Antragsrechts zu kümmern. Es ist Aufgabe der Partei, ihm Möglichkeiten dafür zur Verfügung zu stellen.

Verwaltender Vorstand

Nun wird gerade für Parteitage viel getan, um sie zugänglicher zu machen. Reisekostenerstattung, Sonderangebote der Bahn, Couchsurfing oder kostenlose Schlafplätze, Gebärdendolmetscher, Streaming - die Absicht, möglichst viel Beteiligung zu ermöglichen, ist klar erkennbar. Sollten wir es irgendwann schaffen, eine lauffähige SMV zu beschließen, würden auch zeitliche, soziale und gesundheitliche Hürden drastisch gesenkt werden können.
Wo die Rechte zur Mitbestimmung viel unklarer geregelt sind, ist die Verwaltung. Da wir inhaltliche Beteiligungsmöglichkeiten für alle Mitglieder anstreben, sollen unsere Vorstände nur verwaltend tätig werden. Genau diese Verwaltung ist es jedoch, die diese Beteiligungsmöglichkeiten schafft und die Verantwortung für ihre Umsetzung trägt. Eine Verwaltungsentscheidung hat daher immer auch Einfluss auf das Politische. Von einem Vorstand zu verlangen, dass er nie politisch handelt, sehe ich als undurchführbar an. Vielmehr muss man fordern, dass Vorstände im Einklang mit demokratisch beschlossenen Beschlüssen handeln - mit der Satzung sowieso, mit dem Programm, und dass sie die Forderungen, die wir an die Regierung stellen, selbst mit gutem Beispiel voran umsetzen. Das betrifft vor allem Beteiligung, Transparenz und Datenschutz - wenn wir hier nicht nach unseren eigenen Maximen handeln, machen wir uns schnell unglaubwürdig. Datenschutz und Transparenz erfordern einen eigenen Post an gesonderter Stelle. Ich gehe daher direkt zur Beteiligung über.

Die Grenzen der Mitbestimmung

Kommen wir nun also zum Grund, warum ich Basisdemokratie und Mitbestimmung mit "Selbstlüge" betitelt habe. Zum einen, weil damit oft ein Anspruchsdenken einhergeht, das der Realität und auch Praktikabilität einfach nicht gerecht wird. Und zum anderen, weil es Grenzen gibt, über die hinaus eine Partei, aber auch eine Gesellschaft, handlungsunfähig wird, wenn sie keine Zuständigkeiten oder Hierarchien hat. Wir haben eine repräsentative Demokratie, weil täglich sehr viele Entscheidungen getroffen werden müssen. Niemand kann all diese Entscheidungen selbst treffen, und schon gar nicht kann man jede Entscheidung immer von allen treffen lassen - das ist allein zeitlich nicht möglich. Auch, dass niemand sich mit allem auskennt und nicht für alles Interesse mitbringt, schränkt die Möglichkeiten ein. Und nicht zuletzt müssen Entscheidungen manchmal schnell getroffen werden. Demokratie kann lähmend sein. Und dann kommen wir doch noch kurz zum Datenschutz: würden wir z.B. über Mitgliedsanträge oder Ordnungsmaßnahmen abstimmen, würden personenbezogene Daten grundsätzlich an alle herausgegeben werden müssen.
Vorstände und Beauftrage braucht es vor allem aus drei Gründen:
1. es gibt Dinge, die sollten nicht allgemeinöffentlich passieren, um Persönlichkeitsrechte zu wahren. Dafür braucht es Menschen, denen die Basis oder die Bürger vertrauen müssen, weshalb die Personen, die sie erledigen, demokratisch gewählt werden sollten, dann aber diese Dinge selbständig erledigen (Gewaltenteilung und Kontrollinstanzen vorausgesetzt).
2. es gibt Dinge, die müssen einfach gemacht werden, egal, ob sich Menschen finden, die darauf Lust haben. Das geht nur, wenn jemand zuständig ist. Pflichten lassen sich nicht auf eine Masse von Menschen verteilen. Kein Projekt scheitert schneller als jene, die mit "man müsste mal" beginnen.
3. es gibt Dinge, die rein organisatorischer Natur sind und die demokratisch in Beschäftigungstherapie ausarten, die ewig dauert und am Ende zu objektiv schlechten Ergebnissen führen kann, weil Beschlüsse dann vielleicht nicht durchführbar oder bezahlbar sind.

Mehr Struktur wagen

Die Untersuchung der Superdelegierten von Niels hat gezeigt, dass im LQFB überwiegend auf Menschen delegiert wird, die sehr aktiv sind, regelmäßig abstimmen, selbst Anträge einbringen und für Anträge werben. Es ist nur natürlich, dass Aktive mehr Einfluss nehmen können als Wochenendpiraten. Das gilt auch außerhalb von LQFB. Basisdemokratie heißt nun nicht, dass alle gleich viel Input geben müssen. Nur, dass es jedem frei steht, das zu tun.
In der Praxis heißt das, dass jemand etwas tut und dann von allen Seiten zu hören bekommt, wie er es hätte machen sollen und warum er nicht mit allen anderen vorher gesprochen hat. Basisdemokratie funktioniert nur in geordneten Strukturen. Auf Parteitagen haben wir Strukturen in Form von Geschäftsordnung, Tagesordnung, Versammlungsleitung und Wahlleitung, mit klar umrissenen Aufgaben, Befugnissen und Regeln. Ohne diese hätten wir nur einen Raum mit Geschrei oder ein Ferienlager, ohne Ergebnisse. Strukturen haben wir auch online im Liquid Feedback. Seit Kurzem gibt es in MV eine ständige Mitgliederversammlung. Aber auch hier gibt es eine Geschäftsordnung und damit verbundene Regeln, zum Beispiel die Phasen, die ein Thema durchläuft, oder die Quoren.
Was ich mir wünsche, sind klare Zuständigkeiten und Befugnisse, dass Verantwortung aus diesen Zuständigkeiten auch wahrgenommen wird, und ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, mit welchen Anliegen man sich an die Mailingliste oder die SMV, und mit welchen man sich besser direkt an die Zuständigen wendet.