Ausnahmsweise ohne konkreten, aktuellen Anlass möchte ich, nachdem ich bereits ausführlich über Mailinglisten hergezogen bin, noch auf einen weiteren Schwachpunkt in unserer Diskussionskultur zu sprechen kommen: den Flausch.
Flausch ist ja in erster Linie etwas Positives und ruft eher angenehme Vorstellungen hervor: weich, fluffig, Katzenbabies. Im Piratenkontext steht er für Nettigkeit, Freundlichkeit, Lächeln und Katzenbabies. Dass so etwas wie Flauschkritik überhaupt geäußert wird und schon die alleinige Nennung des Wortes Augen verdreht, scheint also zunächst unverständlich. Vorweg daher eine kurze Klarstellung: Ich schätze respektvollen Umgang miteinander. Gute Arbeit sollte mehr gelobt werden. Freundlichkeit verbessert unsere Zusammenarbeit. Katzenbabies sind süß.
Übrig bleiben zwei - augenscheinlich widersprüchliche - Feststellungen, die vielleicht zeigen können, dass es eben doch nicht so einfach ist.
Wir sind nicht nett genug
Dass wir eine empörungsfreudige Streitkultur haben, ist bekannt. Ich halte Empörung ja schon lange für das Nutzloseste aller Gefühle: es handelt sich um einen unreflektierten, spontanen moralischen Aufschrei. Das ist etwas, was immer auch Wut beinhaltet, und Wut, die herausgelassen wird, ist Agression. Empörung ist also immer auch ein Angriff. Und mit spontanen Angriffen ist es so eine Sache - wenn man nicht anhält, um zu überlegen, ob man die Richtigen trifft oder der Angriff zielführend ist, vertieft man damit nur Gräben. Die moralische Natur der Empörung verstärkt dieses Problem. Wer sich auf der Seite der Guten wähnt, dem fällt es leicht, sein eigenes Verhalten vor sich selbst und anderen zu rechtfertigen. Für gute Zwecke werden die meisten Fehler begangen. Für einen guten Zweck zu streiten, reicht allein nicht.Nun ist das mit Gefühlen so eine Sache: man hat sie, ob sie nun zielführend oder angebracht oder gern gesehen sind oder nicht. Ich möchte aber dringend für ein Kanalisieren, ein Innehalten plädieren: lohnt es, sich öfffentlich aufzuregen? Ist das, was mich aufregt, ein spezieller Trigger für mich oder ist es allgemein untragbar? Könnte ich das begründen? Wurde mir das, worüber ich mich empöre, über Dritte oder ein vereinzeltes Medium zugetragen, und kann ich die Quelle des Problems recherchieren, um diese anstatt des weitergegebenen und damit immer konstruierten Bildes anzugreifen? Worauf fußt mein Gefühl der moralischen Überlegenheit? Woher nehme ich mir das Recht, über etwas zu urteilen? Kann ich das kohärent in Worte fassen?
Kann man diese Fragen nicht beantworten, ist es vielleicht zu früh, über soziale Kanäle und digitale Medien seiner Aufregung Raum zu geben. Vielleicht rantet man besser unter vertrauenswürdigen Freunden, tauscht sich aus, reflektiert, brüllt den Monitor an. Und kann dann überlegen, wie man am Besten verfährt. Empörung ist ein Treibstoff für Engagement. Aber bevor man fährt, macht man das Garagentor auf und überlegt sich, wo man hinwill.
Wir sind zu nett
Will man, dass gute ehrenamtliche Arbeit geleistet wird, hat man ein Dilemma: Leistung wird freiwillig erbracht und kann nicht eingefordert werden. Gelegentlich muss man aus Mangel an Ressourcen (Zeit, Geld, Interesse, Fähigkeiten) Abstriche bei den Ansprüchen machen. Es ist allerdings zu beobachten, dass "ehrenamtlich" und "freiwillig" Schlagworte sind, die es nahezu unmöglich machen, überhaupt Ansprüche zu haben und zu äußern.Solange wir Arbeit, die gemacht werden muss, nicht bezahlen können, bleibt dieses Dilemma bestehen. Was uns fehlt, ist der Mut, Ansprüche ohne Gegenleistung zu stellen. Das bedeutet, schlechte Arbeit zu kritisieren, aus eigenen Fehlern zu lernen und das Argument "$Menschen haben sich viel Mühe gegeben" ein für alle Mal zu überwinden. Mühe und Wollen sind Anlass zu Lob und Dankbarkeit - kein Kriterium, Anträgen zuzustimmen oder Personen zu wählen. Als Partei muss es unser Ziel sein, unsere Inhalte voranzubringen. Dem darf der Wunsch, Mitglieder nicht zu enttäuschen, nicht übergeordnet werden. Dinge unter den Teppich zu kehren, schadet uns mehr, als es uns unangenehm berührt, die Scherben aufzusammeln. Ein Antrag, eine Kandidatur, auch formlose Vorschläge sind Angebote an die Partei. Ob sie diese annimmt, darf nicht von menschlichem Wohlwollen, Mitleid oder Symphatien bestimmt werden. Diese Dinge haben ihren Platz auf menschlicher Ebene. Dort werden sie auch gebraucht. Aber wenn Qualität oder Leistung beurteilt werden müssen, sollten auch wirklich nur diese betrachtet werden.
Wir sind nicht nett genug
Ist es also an der Zeit, mutig zu sein und Kritik zu äußern, kommt die menschliche Ebene gern hinterrücks wieder ins Spiel: in Form von Beleidigungen, agressivem Stil oder Unterstellungen. Da kritisieren wir zum Beispiel vermutete Absichten oder färben unsere Kritik mit Interpretationen der Persönlichkeit des Gegenübers. Wir müssen lernen, Sachebene von menschlichem zu trennen. Wer angegriffen wird, will sich verteidigen. Wenn wir aber etwas kritisieren, wollen wir nicht, dass sich jemand verteidigt. Wir wollen, dass er sich erklärt. Wir wollen, dass er Verbesserungsvorschläge macht oder annimmt. Wir wollen erreichen, dass etwas *besser* wird - das ist sehr viel leichter, wenn der Kritisierte Grund hat, mit uns zusammen daran arbeiten zu wollen.Viele von uns sind Neulinge in der Politik, wenige für politische Arbeit qualifiziert. Wir tun sie trotzdem. Dabei passieren Fehler - manchmal hanebüchene, unverantwortliche und schwerwiegende Fehler. Wir sind wie Kinder, die nicht zuhören wollen, wenn es heißt, dass sie zu klein dafür sind. Aber wie bei Kindern hilft dann nur, uns Verantwortung zu lehren. Uns Konsequenzen aufzeigen. Und uns Gelegenheit geben, es wiedergutzumachen.
Wir sind zu nett
Es gibt auch immer wieder Fälle, da reicht das nicht. Da wird nicht wiedergutgemacht, da findet keine Einsicht, keine Erklärung statt, da wird Kritik nicht abgewägt, nicht reflektiert, sondern nur empört von sich gewiesen und zurückgeschlagen. Es gibt auch Fälle, da folgt ein scheiternder Versuch, es besser zu machen, dem nächsten, oder Versprechen auf Versprechen, sich zu verändern. Wieviel Flausch verträgt eine Partei da? Wieviel elterliche Geduld und Fürsorge sind zu viel? (Zwischeneinwand: an diesem Punkt ist es wichtig, sich zu vergewissern, dass ein tatsächliches Problem und nicht eine persönliche Abneigung gegen rein subjektiv wahrgenommene Verfehlungen besteht.)Das Zauberwort lautet Konsequenzen. Eine Gemeinschaft braucht Spielregeln, und Regeln sind nur dann welche, wenn etwas passiert, wenn man sie bricht. Bei uns als Partei nennt man das Satzung, und durchgesetzt wird sie durch Vorstände und Schiedsgerichte. Wenn Reden nicht hilft und ergebnislos Zeit und Nerven bindet, gibt es da Leute, die kümmern sich dann darum. So jedenfalls ist es gedacht.
Mecklenburg-Vorpommern zeichnet sich hier durch eine ganz besondere Form des Flausches aus: sämtliche "zahnlosen" Ordnungsmaßnahmen wurden mit der Begründung, wir würden dergleichen nicht brauchen und es handele sich bei unseren Mitgliedern um erwachsene Menschen, die Probleme auf anderen Wegen lösen könnten, gestrichen. Die erste mir bekannte angestrengte Ordnungsmaßnahme wurde nicht nur gegen den Wunsch des Antragstellers veröffentlicht, sondern auch als Missbrauch von Parteiorganen bezeichnet. Dass zwei Instanzen dem Antrag stattgaben, hat diese Wahrnehmung bis heute nicht verändert.
Menschen sind nie alt genug, um Dinge vernünftig untereinander zu klären. Wäre dem so, könnten wir in Frieden und Gerechtigkeit in einer Anarchie leben. Fehlverhalten muss Konsequenzen haben. Auch eine zahnlose Ordnungsmaßnahme ist ein "Du, du!" von oben - oft reicht das. Ohne sie bleibt nur Selbstjustiz: soziale Ächtung, laute Empörung, hilflose Agression. Was ich von derlei Maßnahmen halte, erwähnte ich bereits.
Wir sind nicht nett genug
Am Ende bleibt, auf die Menschen gut aufzupassen, an denen wir nichts auszusetzen haben. Die Dinge, die wir untragbar finden, finden andere gut und wichtig, und was uns gefällt, ist dem Nächsten ein Dorn im Auge. Sobald wir aktiv werden, sichtbar werden, Bekanntheitsgrad erlangen, sind wir selbst Zielscheibe von Empörung, unsachlicher Kritik, vielleicht sogar Hass. Das ist leichter als ein Lob und bleibt länger im Gedächtnis - also lasst uns die Menschen loben, die uns wichtig sind. Am Rande, im Vorbeigehen, persönlich oder per Direktnachricht. Damit sie wissen, dass Menschen sie gut finden.Und wenn wir uns empören: lass und uns so empören, wie wir uns wünschen, dass sich über uns empört würde. Ist nicht schwer zu merken. Lernt man eigentlich im Kindergarten.
Lasst uns erwachsen werden. Erwachsene Katzen sind auch immer noch niedlich und fallen dafür nicht so oft hin.