28.08.2013Selbstlügen der Piratenpartei: Der Flausch als destruktive Kraft - ein Plädoyer
Dieser Artikel ist im generischen Maskulinum verfasst. Männliche Personalpronomen und Personenbezeichnungen erlauben keinen Rückschluss auf das Geschlecht.
Ausnahmsweise ohne konkreten, aktuellen Anlass möchte ich, nachdem ich bereits ausführlich über
Mailinglisten hergezogen bin, noch auf einen weiteren Schwachpunkt in unserer Diskussionskultur zu sprechen kommen: den Flausch.
Flausch ist ja in erster Linie etwas Positives und ruft eher angenehme Vorstellungen hervor: weich, fluffig, Katzenbabies. Im Piratenkontext steht er für Nettigkeit, Freundlichkeit, Lächeln und Katzenbabies. Dass so etwas wie Flauschkritik überhaupt geäußert wird und schon die alleinige Nennung des Wortes Augen verdreht, scheint also zunächst unverständlich. Vorweg daher eine kurze Klarstellung: Ich schätze respektvollen Umgang miteinander. Gute Arbeit sollte mehr gelobt werden. Freundlichkeit verbessert unsere Zusammenarbeit. Katzenbabies sind süß.
Übrig bleiben zwei - augenscheinlich widersprüchliche - Feststellungen, die vielleicht zeigen können, dass es eben doch nicht so einfach ist.
Wir sind nicht nett genug
Dass wir eine empörungsfreudige Streitkultur haben, ist bekannt. Ich halte Empörung ja schon lange für das Nutzloseste aller Gefühle: es handelt sich um einen unreflektierten, spontanen moralischen Aufschrei. Das ist etwas, was immer auch Wut beinhaltet, und Wut, die herausgelassen wird, ist Agression. Empörung ist also immer auch ein Angriff. Und mit spontanen Angriffen ist es so eine Sache - wenn man nicht anhält, um zu überlegen, ob man die Richtigen trifft oder der Angriff zielführend ist, vertieft man damit nur Gräben. Die moralische Natur der Empörung verstärkt dieses Problem. Wer sich auf der Seite der Guten wähnt, dem fällt es leicht, sein eigenes Verhalten vor sich selbst und anderen zu rechtfertigen. Für gute Zwecke werden die meisten Fehler begangen. Für einen guten Zweck zu streiten, reicht allein nicht.
Nun ist das mit Gefühlen so eine Sache: man hat sie, ob sie nun zielführend oder angebracht oder gern gesehen sind oder nicht. Ich möchte aber dringend für ein Kanalisieren, ein Innehalten plädieren: lohnt es, sich öfffentlich aufzuregen? Ist das, was mich aufregt, ein spezieller Trigger für mich oder ist es allgemein untragbar? Könnte ich das begründen? Wurde mir das, worüber ich mich empöre, über Dritte oder ein vereinzeltes Medium zugetragen, und kann ich die Quelle des Problems recherchieren, um diese anstatt des weitergegebenen und damit immer konstruierten Bildes anzugreifen? Worauf fußt mein Gefühl der moralischen Überlegenheit? Woher nehme ich mir das Recht, über etwas zu urteilen? Kann ich das kohärent in Worte fassen?
Kann man diese Fragen nicht beantworten, ist es vielleicht zu früh, über soziale Kanäle und digitale Medien seiner Aufregung Raum zu geben. Vielleicht rantet man besser unter vertrauenswürdigen Freunden, tauscht sich aus, reflektiert, brüllt den Monitor an. Und kann dann überlegen, wie man am Besten verfährt. Empörung ist ein Treibstoff für Engagement. Aber bevor man fährt, macht man das Garagentor auf und überlegt sich, wo man hinwill.
Wir sind zu nett
Will man, dass gute ehrenamtliche Arbeit geleistet wird, hat man ein Dilemma: Leistung wird freiwillig erbracht und kann nicht eingefordert werden. Gelegentlich muss man aus Mangel an Ressourcen (Zeit, Geld, Interesse, Fähigkeiten) Abstriche bei den Ansprüchen machen. Es ist allerdings zu beobachten, dass "ehrenamtlich" und "freiwillig" Schlagworte sind, die es nahezu unmöglich machen, überhaupt Ansprüche zu haben und zu äußern.
Solange wir Arbeit, die gemacht werden muss, nicht bezahlen können, bleibt dieses Dilemma bestehen. Was uns fehlt, ist der Mut, Ansprüche ohne Gegenleistung zu stellen. Das bedeutet, schlechte Arbeit zu kritisieren, aus eigenen Fehlern zu lernen und das Argument "$Menschen haben sich viel Mühe gegeben" ein für alle Mal zu überwinden. Mühe und Wollen sind Anlass zu Lob und Dankbarkeit -
kein Kriterium, Anträgen zuzustimmen oder Personen zu wählen. Als Partei muss es unser Ziel sein, unsere Inhalte voranzubringen. Dem darf der Wunsch, Mitglieder nicht zu enttäuschen, nicht übergeordnet werden. Dinge unter den Teppich zu kehren, schadet uns mehr, als es uns unangenehm berührt, die Scherben aufzusammeln. Ein Antrag, eine Kandidatur, auch formlose Vorschläge sind Angebote an die Partei. Ob sie diese annimmt, darf nicht von menschlichem Wohlwollen, Mitleid oder Symphatien bestimmt werden. Diese Dinge haben ihren Platz auf menschlicher Ebene. Dort werden sie auch gebraucht. Aber wenn Qualität oder Leistung beurteilt werden müssen, sollten auch wirklich nur diese betrachtet werden.
Wir sind nicht nett genug
Ist es also an der Zeit, mutig zu sein und Kritik zu äußern, kommt die menschliche Ebene gern hinterrücks wieder ins Spiel: in Form von Beleidigungen, agressivem Stil oder Unterstellungen. Da kritisieren wir zum Beispiel vermutete Absichten oder färben unsere Kritik mit Interpretationen der Persönlichkeit des Gegenübers. Wir müssen lernen, Sachebene von menschlichem zu trennen. Wer angegriffen wird, will sich verteidigen. Wenn wir aber etwas kritisieren, wollen wir nicht, dass sich jemand verteidigt. Wir wollen, dass er sich erklärt. Wir wollen, dass er Verbesserungsvorschläge macht oder annimmt. Wir wollen erreichen, dass etwas *besser* wird - das ist sehr viel leichter, wenn der Kritisierte Grund hat, mit uns zusammen daran arbeiten zu wollen.
Viele von uns sind Neulinge in der Politik, wenige für politische Arbeit qualifiziert. Wir tun sie trotzdem. Dabei passieren Fehler - manchmal hanebüchene, unverantwortliche und schwerwiegende Fehler. Wir sind wie Kinder, die nicht zuhören wollen, wenn es heißt, dass sie zu klein dafür sind. Aber wie bei Kindern hilft dann nur, uns Verantwortung zu lehren. Uns Konsequenzen aufzeigen. Und uns Gelegenheit geben, es wiedergutzumachen.
Wir sind zu nett
Es gibt auch immer wieder Fälle, da reicht das nicht. Da wird nicht wiedergutgemacht, da findet keine Einsicht, keine Erklärung statt, da wird Kritik nicht abgewägt, nicht reflektiert, sondern nur empört von sich gewiesen und zurückgeschlagen. Es gibt auch Fälle, da folgt ein scheiternder Versuch, es besser zu machen, dem nächsten, oder Versprechen auf Versprechen, sich zu verändern. Wieviel Flausch verträgt eine Partei da? Wieviel elterliche Geduld und Fürsorge sind zu viel? (Zwischeneinwand: an diesem Punkt ist es wichtig, sich zu vergewissern, dass ein tatsächliches Problem und nicht eine persönliche Abneigung gegen rein subjektiv wahrgenommene Verfehlungen besteht.)
Das Zauberwort lautet Konsequenzen. Eine Gemeinschaft braucht Spielregeln, und Regeln sind nur dann welche, wenn etwas passiert, wenn man sie bricht. Bei uns als Partei nennt man das Satzung, und durchgesetzt wird sie durch Vorstände und Schiedsgerichte. Wenn Reden nicht hilft und ergebnislos Zeit und Nerven bindet, gibt es da Leute, die kümmern sich dann darum. So jedenfalls ist es gedacht.
Mecklenburg-Vorpommern zeichnet sich hier durch eine ganz besondere Form des Flausches aus: sämtliche "zahnlosen" Ordnungsmaßnahmen wurden mit der Begründung, wir würden dergleichen nicht brauchen und es handele sich bei unseren Mitgliedern um erwachsene Menschen, die Probleme auf anderen Wegen lösen könnten, gestrichen. Die erste mir bekannte angestrengte Ordnungsmaßnahme wurde nicht nur gegen den Wunsch des Antragstellers veröffentlicht, sondern auch als Missbrauch von Parteiorganen bezeichnet. Dass zwei Instanzen dem Antrag stattgaben, hat diese Wahrnehmung bis heute nicht verändert.
Menschen sind nie alt genug, um Dinge vernünftig untereinander zu klären. Wäre dem so, könnten wir in Frieden und Gerechtigkeit in einer Anarchie leben. Fehlverhalten muss Konsequenzen haben. Auch eine zahnlose Ordnungsmaßnahme ist ein "Du, du!" von oben - oft reicht das. Ohne sie bleibt nur Selbstjustiz: soziale Ächtung, laute Empörung, hilflose Agression. Was ich von derlei Maßnahmen halte, erwähnte ich bereits.
Wir sind nicht nett genug
Am Ende bleibt, auf die Menschen gut aufzupassen, an denen wir nichts auszusetzen haben. Die Dinge, die wir untragbar finden, finden andere gut und wichtig, und was uns gefällt, ist dem Nächsten ein Dorn im Auge. Sobald wir aktiv werden, sichtbar werden, Bekanntheitsgrad erlangen, sind wir selbst Zielscheibe von Empörung, unsachlicher Kritik, vielleicht sogar Hass. Das ist leichter als ein Lob und bleibt länger im Gedächtnis - also lasst uns die Menschen loben, die uns wichtig sind. Am Rande, im Vorbeigehen, persönlich oder per Direktnachricht. Damit sie wissen, dass Menschen sie gut finden.
Und wenn wir uns empören: lass und uns so empören, wie wir uns wünschen, dass sich über uns empört würde. Ist nicht schwer zu merken. Lernt man eigentlich im Kindergarten.
Lasst uns erwachsen werden. Erwachsene Katzen sind auch immer noch niedlich und fallen dafür nicht so oft hin.
11.07.2013Selbstlügen der Piratenpartei: Mitbestimmung, Beteiligung, Basisdemokratie
Wir sind die mit den Fragen, ihr die mit den Antworten.
Schon lange schreibt sich die Piratenpartei mehr Bürgerbeteiligung, mehr Demokratie wagen, mehr Mitbestimmung auf die Fahnen. Das ist ein schönes Ziel, mit dem wir uns gegen die Ellenbogengesellschaft in starren Hierarchien und die Delegiertensysteme anderer Parteien abgrenzen wollen und Bürgern mehr Einfluss in das Politikgeschehen geben wollen. Der Grundgedanke, dass man von unten mehr Einfluss nehmen können soll auf die Dinge, die oben beschlossen werden, ist eine prima Sache - leider führt das oft zu Verwirrung und Unklarheiten, was Zuständigkeiten angeht und was das denn im Einzelnen für uns bedeutet. Ich drösele daher hier mal ein paar häufige Streitquellen auf und lege dar, was ich unter mehr Beteiligung verstehe. Wie immer spiegelt dieser Post nur meine Meinung und keine unumstößliche Wahrheit wieder.
Recht und Anspruch
Ein Recht bedeutet nicht dasselbe wie einen Anspruch auf etwas zu haben, und auch Rechte sind oft an etwas gekoppelt. Zum Beispiel hat jedes Mitglied der Partei das Recht, an einem Parteitag teilzunehmen und dort sein Rederecht auszuüben. Das bedeutet nicht, dass es einen Anspruch darauf gibt, denn: wenn ich mir das Bein breche und nicht mobil bin, kann ich nicht erwarten, dass ich persönlich abgeholt und kostenfrei hingefahren werde. Wenn ich versuche, den Parteitag anzuzünden, kann mir Hausverbot erteilt werden. Und wenn ich etwas sagen möchte, die Versammlung aber beschlossen hat, die Rednerliste zu schließen, dann kann ich nicht öffentlich sprechen. Wenn ich meine Redezeit für themenfremde Äußerungen nutze, kann die Versammlungsleitung mir das Wort entziehen. Wenn meine Redezeit um ist, werde ich möglicherweise nicht alle Gedanken los, die ich äußern wollte. Wenn ich meinen Mitgliedsbeitrag nicht zahle, bin ich nicht stimmberechtigt. Und wenn ich zum Parteitag krank werde, kann ich nicht kommen, so schade das ist.
Das betrifft viele Rechte, die ich als Bürger oder Parteimitglied habe. Auch das Antragsrecht, das Recht, sich zu Wahlen aufstellen zu lassen, das Recht, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen - keins davon stellt einen Anspruch dar. Der Unterschied: für die Ausübung meiner Rechte bin ich selbst verantwortlich. Für die Umsetzung eines Anspruchs sind es andere.
Das gilt übrigens auch für das gern zitierte Recht auf freie Meinungsäußerung: ja, ich darf sagen, was ich will. Niemand aber muss mir dafür eine Plattform bieten oder mir auch nur zuhören, und jeder darf wiederum seine Meinung dagegenhalten - auch, wenn diese Meinung daraus besteht, dass ich die Klappe halten solle. Eingeschränkt wird die Meinungsfreiheit auch durch die Rechte anderer: Ich darf nicht zu Straftaten auffordern, ich darf nicht beleidigen. Da werden meine Rechte ja schon einmal ganz schön beschnitten, und das vollkommen zu Recht.
Barrierefreiheit und Hürdenabbau
Überall da, wo Einschränkungen nicht absichtlich bestehen, sondern mit einem "leider" versehen sind, greift der Wunsch nach niedrigen Hürden und Barrierefreiheit. Hier muss man außerdem zwischen "fair" und "gerecht" unterscheiden. Dass ein Blinder nicht-digitale Texte nicht selbst lesen kann, ist schade. Fair wäre es, allen anderen die Augen zu verbinden. Gerecht wäre es, Screenreader und alle wichtigen Texte digital zur Verfügung zu stellen. Chancengleichheit ist nicht herstellbar - Menschen sind verschieden und bringen unterschiedliche Voraussetzungen mit. Was wir anstreben, ist Chancengerechtigkeit: unfaire Hürden senken, Barrieren abbauen, wo es geht. Das geht immer mit einer Kosten-Nutzen-Abwägung einher. Eigentlich alles, was man tun muss, um möglichst viele Menschen einzubinden, kostet entweder Zeit oder Geld, oder Zeit, die man Menschen bezahlen muss.
Holschuld und Bringschuld
Was also ist wessen Verantwortung, um Rechte möglichst frei ausüben zu können? Grundsätzlich einmal kann man verlangen, dass es überhaupt möglich ist, Rechte wahrzunehmen. Darum müssen zum Beispiel Parteitage rechtzeitig angekündigt werden, Akkreditierungsmöglichkeiten bestehen und Wege, Anträge einzureichen. Sind solche Grundvoraussetzungen nicht erfüllt, ist das Recht kein Recht mehr, sondern ein leeres Versprechen. Was man sich nur wünschen, aber nicht verlangen kann, ist, dass es einem leichter gemacht wird und Ausnahmen bedacht werden. Für Parteitage heißt das: Rollstuhlrampen, Gebärdendolmetscher, Übersicht über preiswerte Übernachtungsmöglichkeiten, ein übersichtliches Antragsbuch, Verpflegung auf dem Parteitag, Internetanschluss, genügend Sitzplätze, gute Belüftung, Licht und Tontechnik, die den jeweiligen Sprecher klar verständlich macht. Viele dieser Dinge sind als Selbstverständlichkeit anzusehen und können guten Gewissens gefordert werden. Sie sind aber nicht unbedingt Bestandteil des Rechts. Es ist Aufgabe des Teilnehmers, sich um die Ausübung seines Stimm-/Rede-/Antragsrechts zu kümmern. Es ist Aufgabe der Partei, ihm Möglichkeiten dafür zur Verfügung zu stellen.
Verwaltender Vorstand
Nun wird gerade für Parteitage viel getan, um sie zugänglicher zu machen. Reisekostenerstattung, Sonderangebote der Bahn, Couchsurfing oder kostenlose Schlafplätze, Gebärdendolmetscher, Streaming - die Absicht, möglichst viel Beteiligung zu ermöglichen, ist klar erkennbar. Sollten wir es irgendwann schaffen, eine lauffähige SMV zu beschließen, würden auch zeitliche, soziale und gesundheitliche Hürden drastisch gesenkt werden können.
Wo die Rechte zur Mitbestimmung viel unklarer geregelt sind, ist die Verwaltung. Da wir inhaltliche Beteiligungsmöglichkeiten für alle Mitglieder anstreben, sollen unsere Vorstände nur verwaltend tätig werden. Genau diese Verwaltung ist es jedoch, die diese Beteiligungsmöglichkeiten schafft und die Verantwortung für ihre Umsetzung trägt. Eine Verwaltungsentscheidung hat daher immer auch Einfluss auf das Politische. Von einem Vorstand zu verlangen, dass er nie politisch handelt, sehe ich als undurchführbar an. Vielmehr muss man fordern, dass Vorstände im Einklang mit demokratisch beschlossenen Beschlüssen handeln - mit der Satzung sowieso, mit dem Programm, und dass sie die Forderungen, die wir an die Regierung stellen, selbst mit gutem Beispiel voran umsetzen. Das betrifft vor allem Beteiligung, Transparenz und Datenschutz - wenn wir hier nicht nach unseren eigenen Maximen handeln, machen wir uns schnell unglaubwürdig. Datenschutz und Transparenz erfordern einen eigenen Post an gesonderter Stelle. Ich gehe daher direkt zur Beteiligung über.
Die Grenzen der Mitbestimmung
Kommen wir nun also zum Grund, warum ich Basisdemokratie und Mitbestimmung mit "Selbstlüge" betitelt habe. Zum einen, weil damit oft ein Anspruchsdenken einhergeht, das der Realität und auch Praktikabilität einfach nicht gerecht wird. Und zum anderen, weil es Grenzen gibt, über die hinaus eine Partei, aber auch eine Gesellschaft, handlungsunfähig wird, wenn sie keine Zuständigkeiten oder Hierarchien hat. Wir haben eine repräsentative Demokratie, weil täglich sehr viele Entscheidungen getroffen werden müssen. Niemand kann all diese Entscheidungen selbst treffen, und schon gar nicht kann man jede Entscheidung immer von allen treffen lassen - das ist allein zeitlich nicht möglich. Auch, dass niemand sich mit allem auskennt und nicht für alles Interesse mitbringt, schränkt die Möglichkeiten ein. Und nicht zuletzt müssen Entscheidungen manchmal schnell getroffen werden. Demokratie kann lähmend sein. Und dann kommen wir doch noch kurz zum Datenschutz: würden wir z.B. über Mitgliedsanträge oder Ordnungsmaßnahmen abstimmen, würden personenbezogene Daten grundsätzlich an alle herausgegeben werden müssen.
Vorstände und Beauftrage braucht es vor allem aus drei Gründen:
1. es gibt Dinge, die sollten nicht allgemeinöffentlich passieren, um Persönlichkeitsrechte zu wahren. Dafür braucht es Menschen, denen die Basis oder die Bürger vertrauen müssen, weshalb die Personen, die sie erledigen, demokratisch gewählt werden sollten, dann aber diese Dinge selbständig erledigen (Gewaltenteilung und Kontrollinstanzen vorausgesetzt).
2. es gibt Dinge, die müssen einfach gemacht werden, egal, ob sich Menschen finden, die darauf Lust haben. Das geht nur, wenn jemand zuständig ist. Pflichten lassen sich nicht auf eine Masse von Menschen verteilen. Kein Projekt scheitert schneller als jene, die mit "man müsste mal" beginnen.
3. es gibt Dinge, die rein organisatorischer Natur sind und die demokratisch in Beschäftigungstherapie ausarten, die ewig dauert und am Ende zu objektiv schlechten Ergebnissen führen kann, weil Beschlüsse dann vielleicht nicht durchführbar oder bezahlbar sind.
Mehr Struktur wagen
Die
Untersuchung der Superdelegierten von Niels hat gezeigt, dass im LQFB überwiegend auf Menschen delegiert wird, die sehr aktiv sind, regelmäßig abstimmen, selbst Anträge einbringen und für Anträge werben. Es ist nur natürlich, dass Aktive mehr Einfluss nehmen können als Wochenendpiraten. Das gilt auch außerhalb von LQFB. Basisdemokratie heißt nun nicht, dass alle gleich viel Input geben müssen. Nur, dass es jedem frei steht, das zu tun.
In der Praxis heißt das, dass jemand etwas tut und dann von allen Seiten zu hören bekommt, wie er es hätte machen sollen und warum er nicht mit allen anderen vorher gesprochen hat. Basisdemokratie funktioniert nur in geordneten Strukturen. Auf Parteitagen haben wir Strukturen in Form von Geschäftsordnung, Tagesordnung, Versammlungsleitung und Wahlleitung, mit klar umrissenen Aufgaben, Befugnissen und Regeln. Ohne diese hätten wir nur einen Raum mit Geschrei oder ein Ferienlager, ohne Ergebnisse. Strukturen haben wir auch online im Liquid Feedback. Seit Kurzem gibt es in MV eine ständige Mitgliederversammlung. Aber auch hier gibt es eine Geschäftsordnung und damit verbundene Regeln, zum Beispiel die Phasen, die ein Thema durchläuft, oder die Quoren.
Was ich mir wünsche, sind klare Zuständigkeiten und Befugnisse, dass Verantwortung aus diesen Zuständigkeiten auch wahrgenommen wird, und ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, mit welchen Anliegen man sich an die Mailingliste oder die SMV, und mit welchen man sich besser direkt an die Zuständigen wendet.
14.06.2013Bleib tapfer
Wie man sich Motivation in der Piratenpartei (und anderen Organisationen) erhält
Wer sich länger als ein paar Wochen in dieser Partei oder auf ihren Medien aufhält, begegnet früher oder später unweigerlich Äußerungen der Verbitterung, Enttäuschung oder Verzweiflung - manchmal aus seinem eigenen Mund. Menschen treten aus. Menschen werden beleidigt, demontiert oder sabotiert. Menschen brennen aus und können oder wollen nicht mehr.
Das ist normal.
Wer mit Herzblut bei einer Sache ist, dem wird dieses manchmal vergossen. Für Motivationsprobleme gibt es viele Ursachen, einige davon unvermeidlich. Ich möchte an dieser Stelle versuchen, sinnvollen Umgang mit ihnen aufzuzeigen. Auf dass wir mit uns und unserer Partei glücklicher werden.
Warum mach ich den Scheiß überhaupt?
Manchmal stellt man sich diese Frage rein rhetorisch. Dabei ist es durchaus sinnvoll, gelegentlich darüber nachzudenken, und es nötigenfalls schriftlich festzuhalten. Darin liegt auch der Schlüssel dazu, Frustrationsquellen ausfindig zu machen, ihnen aus dem Weg zu gehen oder Möglichkeiten zu finden, mit ihnen umzugehen. Dabei gibt es keine falsche Antwort - politisches Engagement kann aus Idealismus entstehen oder dem Wunsch, die Welt zu verbessern, aber auch aus Zusammengehörigkeitsgefühl oder dem Bedürfnis nach Anerkennung. Vielleicht wollte man Teil einer Bewegung sein und sich vom Geist der Zeit mitreißen lassen, oder man möchte eigene Ziele politisch durchsetzen. Vielleicht träumt man von Ruhm oder Reichtum, vielleicht möchte man sich wichtig fühlen. Alle diese Gründe sind legitim - man sollte zumindest vor sich selbst ehrlich genug sein, sich über den Ursprung seiner Motivation im Klaren zu sein.
Dinge, die man so schlucken muss
Es gibt Probleme, die es schon immer gab, immer geben wird und die einem überall begegnen. Manche Dinge muss man tatsächlich hinnehmen, weil man sie nicht ändern kann. So vereinen Parteien zum Beispiel Menschen mit unterschiedlichen Interessen, Themenschwerpunkten und Persönlichkeiten. Seit die Piraten nicht mehr allein netzpolitisch aufgestellt sind, ist das Programm um viele Punkte und Grundsätze erweitert worden, die ihre eigenen Anhänger anziehen - die dann möglicherweise mit den ursprünglichen Kernthemen nichts mehr am Hut haben. Das liegt aber in der Natur der Sache - eine Partei stellt immer ein Paket an Standpunkten dar, aus dem man sich nicht Einzelheiten herausgreifen kann. Kaum jemand wird einem so umfangreichen Programm in allen Einzelheiten voll zustimmen können. Das heißt aber auch, dass ständig Unzufriedenheit mit einzelnen Punkten herrscht, die von einer Minderheit aufrechtgehalten wird, der der Mehrheitsbeschluss nicht gefällt. Und so ziemlich jeder von uns ist Teil einer solchen Minderheit.
Das muss man schlucken. Das geht nicht anders. Denn entweder steht man hinter dem Programm, oder aber nicht - zwar können sich Mehrheiten verändern und Beschlüsse neu gefasst werden, praktisch gibt es aber eher selten tatsächliche Richtungswechsel, und auch dann meist in Form schleichender Veränderungen. Die Frage, die man sich hier stellen muss, ist: kann ich die Ziele dieser Partei im Großen und Ganzen vertreten?
Man kann die Partei nicht wechseln
Also, man kann schon. Aber eine andere Partei bedeutet andere Ziele, andere Schwerpunkte, andere Menschen und auch andere Strukturen. Parteien sind nicht wie Sportvereine, von denen man, so eine Auswahl vorhanden ist, sich den suchen kann, in dem man sich am ehesten wohl fühlt. Mit einem bestimmten politischen Profil kann man die Wahl der eigenen Partei nicht von anderen Dingen abhängig machen, wie der Freundlichkeit der Kollegen oder den eigenen Aufstiegschancen. Da eine Partei als Zusammenschluss von Menschen mit ähnlichen politischen Zielen definiert ist, haben diese Ziele hier Priorität. Für wen eine andere Partei eine echte Alternative darstellt, der muss sich im Klaren darüber sein, warum er sich für die Piraten entschieden hat - und diese Entscheidung bei Bedarf überdenken. Gibt man den Piraten ein überzeugtes Ja, muss man zu diesem Ja auch stehen können - trotz allem Frust (es ist ja auch nicht gesagt, dass es woanders besser wäre). Für die meisten Leute dürfte sich aber weniger die Frage danach stellen, welcher Partei sie angehören wollen, sondern eher, ob überhaupt. Und dazu ist ein Abwägen erforderlich - sind die Gründe, die dafür sprechen, überwiegend? Wenn ja, was mache ich mit den Gründen dagegen?
Was machen diese Idioten hier?
Wie bereits angedeutet, ziehen Parteien die unterschiedlichsten Leute an, solange sie nur gewisse Interessenüberschneidungen haben. Man kann sich all diese anderen Menschen nicht aussuchen. Man kann nur mit ihnen umgehen. Die Piraten haben noch ein weiteres Problem: sie sind eine junge Partei, die abseits ihres Kernthemenkomplexes lange kein starkes Profil hatte, zumindest nicht in der öffentlichen Wahrnehmung. Das zieht eine Reihe Leute an, die ansonsten sehr unterschiedliche Vorstellungen haben und mit denen man daher unter Umständen so gut wie nichts gemeinsam hat. In aufstrebende Kleinparteien treten weiterhin Querulanten ein, die bereits anderswo rausgeflogen sind, Opportunisten, die Strukturschwäche ausnutzen, um ein Pöstchen abzugreifen, und selbsternannte Freidenker, die abstruse Ideen salonfähig machen wollen und ihre Chance gekommen sehen. Und das Lustigste daran: es ist oft nicht sofort ersichtlich, ob ein Mitglied zu einer dieser Gruppen gehört, und jeder kann für andere wie einer dieser Typen wirken. Genug Futter also, um Fehden und Kleinkriege über Jahre aufrechtzuerhalten. Wichtig: kritisieren lässt sich nur Verhalten, nicht vermutete Absichten. Letzten Endes spielt es nämlich keine Rolle, was jemand in dieser Partei will - ausschlaggebend ist allein, was er tut, um es zu erreichen.
Die anderen sind das Problem
Ganz oft äußert sich Frust in der Form: "Alles wäre gut, wenn nicht $Person(en) wäre(n)!". Verschiedene Leute sagen das über verschiedene andere. Wer genügend aktiv ist, wird das früher oder später auch über sich selbst hören. Willst du etwas bewegen, musst du dich mit anderen auseinandersetzen. Das ist der Kern politischer Arbeit - Standpunkte zu vertreten, auch und sogar vor allem gegenüber Leuten, die sie nicht teilen. Es gehört zum politischen Alltag, Meinungsverschiedenheiten zu haben, und zu Meinungsverschiedenheiten gehört auch immer, dass man "etwas aufgedrückt" bekommen soll oder "blockiert wird", je nachdem, auf welcher Seite man gerade steht. Konsens ist nun einmal ein seltenes Phänomen, und das heißt, dass man immer und ständig mit Menschen zu tun hat, die etwas verhindern wollen, das man möchte, oder etwas anstreben, das man verhindern will. Damit daraus keine kollektive gegenseitige Zerfleischung wird, braucht es eine sachliche und rücksichtsvolle Diskussionskultur. Dass wir diese nicht haben, ist hinreichend bekannt.
Hör auf, mich zu deprimieren!
Entschuldigung.
Es gibt natürlich Dinge, die man tun kann, um sich nicht deprimieren zu lassen und trotzdem etwas zu erreichen.
Klappe halten, weitermachen!
Seinen Frust pur in Form von "das macht alles keinen Spaß mehr" herauszulassen tut nur sehr kurzfristig gut. Jammern hilft nicht - maximal bekommt man Zuspruch von denjenigen, die man sowieso auf seiner Seite weiß, und den kann man sich auch abholen, ohne öffentlich schlechte Stimmung zu verbreiten. Öffentlich ist hier das Stichwort: jeder muss hin und wieder Dampf ablassen, und Sorgen in sich hineinzufressen staut sie nur auf. Also geh und beschwere dich - unter Freunden bei einem Bier. Zuhause beim Abendbrot. Gegenüber der Katze. Bei jedem nicht lösungsorientierten Wehklagen sollte man aber unbedingt auch die Stimmung des Gegenübers im Auge behalten - wer von Frust verschont ist und mit Eifer bei der Sache ist, den kann es sehr schnell lähmen, wieder und wieder zu hören, wie schlecht eigentlich alles sei. Wer gerade wieder neuen Mut geschöpft hat, der fällt leicht wieder in sich zusammen, wenn ihm eine finstere Zukunft prophezeiht wird. Und wer seinen Partner über lange Zeit an Partei oder Parteikollegen verzweifeln sieht, möchte irgendwann mit der Faust auf den Tisch hauen und sagen:
Dann hör den Idioten doch einfach nicht zu!
Tatsächlich steht nirgendwo geschrieben, dass man sich dem Diskurs stellen muss. Oder die Mailingliste lesen. Oder Menschen auf Twitter folgen, deren Äußerungen einen regelmäßig in Rage bringen. Selbst wenn man sich inhaltlich einbringt und dafür Rede und Antwort stehen möchte, kann man das genauso über private Nachrichten oder eine umfassende Antragsbegründung tun. Niemand zwingt dich, dir alles anzuhören, was in der Partei gesprochen wird, und niemand zwingt dich, immer zu antworten, wenn im Internet jemand unrecht hat. Um etwas zu bewegen, brauchst du auch weder einen Stammtisch, noch eine AG, noch ein Parteimedium. Du brauchst nur eine gute Idee. Was dich persönlich belastet und keinen sichtbaren Nutzen hat: lass es weg! Du musst das nicht tun.
Es macht doch aber sonst keiner!
Sei ehrlich: muss es wirklich unbedingt getan werden? Bist du sicher, dass absolut niemand anders das tun würde oder könnte? Ja? Das heißt noch lange nicht, dass du dafür zuständig bist. Du bist niemandem etwas schuldig. Nicht der Partei, nicht den Menschen in ihr, auch nicht dem Bürger, für den du das alles vielleicht tust oder glaubst, zu tun. Konzentriere dich auf die Dinge, die dir Spaß machen, auf die du stolz bist und für die du keine Gegenleistung erwartest. Wenn du etwas, um das du nicht gebeten wurdest, für Dankbarkeit tust, die dann nicht kommt, machst du dich nur unglücklich. Was du tust, ist aber gut und wichtig? Das sieht nur keiner? Dann hat es auch keiner verdient!
Schaffe dir Erfolgserlebnisse!
Dein letzter Antrag wurde in der Luft zerrissen von Leuten, die keine Ahnung haben und ihn vermutlich nicht einmal gelesen haben? Immer, wenn du dich einbringst, wirst du angepöbelt? Du hast für irgendetwas kandidiert und wurdest nicht gewählt? Dann mach erst einmal etwas, was du unbestritten kannst, oder für das du in jedem Fall Dankbarkeit bekommst. Such dir eine Aufgabe, die schon lange mal gemacht werden musste, aber auf die niemand Lust hat. Arbeite Leuten zu, die sich darüber freuen oder darum bitten. Stelle einen Antrag, von dem du weißt, dass er mehrheitsfähig ist. Oder kümmere dich um Sachen, die dich tatsächlich interessieren, die du bisher immer hinten angestellt hast, oder von denen andere dir sagen, sie seien unwichtig. Blocke diese Leute auf Twitter, sperre ihre Nummer in deinem Handy, markiere ihre Emails als Spam und mache es dann trotzdem. Du darfst das. Du darfst deine Energie verwenden, wofür auch immer du möchtest - und was du nicht möchtest, musst du auch nicht tun.
(Das trifft natürlich nicht ganz auf Beauftragte, Vorstände oder Kandidaten zu. Es tut mir leid, aber ihr habt euch das ausgesucht.)
Dann geh eben dort drüben spielen.
Die Partei ist groß. Es gibt nicht nur deinen Stammtisch. Es gibt nicht nur deine AG, die Leute, mit denen du zusammenarbeitest und die Leute, die du auf Parteitagen triffst. Die Partei ist so groß, dass niemand überall gleichzeitig sein kann, und das bedeutet gleich mehrere Dinge. Die anderen, die an allem schuld sind, sind nicht überall. Es gibt Nischen in dieser Partei, die du nicht kennst, aktive, kluge, großartige Mitglieder, deren Arbeit du noch nie wahrgenommen hast. Es gibt einen Platz für dich, an dem du es besser hast. Und wenn du wieder Motivation übrig hast, kehrst du gestärkt und frisch ausgeruht zurück. Oder nicht. Je nachdem, wie du "Warum mach ich den Scheiß überhaupt" beantwortet hast.
Findest du kein anderes Betätigungsfeld oder hast du das Gefühl, dass du nur an diesen Platz gehörst, an dem du dich so unwohl fühlst, dass du das hier immer noch liest, dann hilft manchmal nur noch eins:
Nimm Abstand!
Kenne deine Grenzen. Nimm dir mehr Zeit für dich, deine Familie, deine Freunde außerhalb der Partei. Mach mal wieder etwas anderes. Schau über den Tellerrand: was von innen aussieht wie der Untergang des Abendlandes, fällt vielleicht außerhalb kaum ins Gewicht. Die Dinge, die in Griff zu bekommen dich so viel Zeit und Kraft kostet, sind möglicherweise nur lokal, temporär oder auf dein Umfeld beschränkte Probleme. Manch eines löst sich auch von ganz allein - oder hat von Anfang an keiner Lösung bedurft. Wenn du dich oft mit anderen Mitgliedern streitest, weil ihre Ansichten oder Behauptungen so inakzeptabel sind, dass du sie nicht stehenlassen kannst - ist es wirklich schlimmer, jemanden im Unrecht sein zu lassen, als immer weiter zu eskalieren? Und denkt der andere nicht das Gleiche über dich?
Bessere dich!
Natürlich liegt die Schuld nicht bei dir - das tut sie nie. Aber Einfluss hast du nur auf dich selbst. Du allein kannst die Partei und ihre Strukturen nicht ändern, und anderen nicht vorschreiben, wie sie sich zu verhalten haben. Aber du kannst dich selbst ändern, damit du es leichter hast. Tu das.
Dazu gehört auch, sich selbst einmal gründlich zu hinterfragen. Sind deine Ziele so, wie du sie verstehst, wirklich der Inbegriff der Piratigkeit, wie sie schon immer gedacht war? Bist du wirklich geeignet für die Dinge, die du tust? Machst du die Aufgaben, die du übernimmst, tatsächlich gut? Könnten die Kritiker vielleicht Recht haben?
Dieser Punkt fällt ein wenig unter das Prinzip "Es muss erst schlechter werden, bevor es besser werden kann." - das ist eine unangenehme Angelegenheit, die sehr wehtun kann und zunächst wenig Motivation produziert. Auf lange Sicht zahlt es sich jedoch aus, Selbst- und Fremdbild stärker in Einklang miteinander zu bringen und sich nicht zu überschätzen. Denn Ärger, Kritik und Anfeindungen bekommt jeder, der etwas tut. Das musst du aushalten können. Das ist viel leichter, wenn an dieser Kritik nichts dran ist. Sorg dafür, dass du dich nur für die Fehler entschuldigst, die du tatsächlich hast - aber geh sicher, dass du weißt, welche das sind.
Warte ab.
Wir sind immer noch Amateure, zumindest die meisten von uns. Wir wollen alle gleich immer in alles selbst einbezogen werden, und wir wollen unsere Erfahrungen selbst machen. Was uns zu professionell vorkommt, nennen wir Politik 1.0 oder nicht authentisch genug. Mit dem Überraschungsergebnis Berlins und der folgenden Erfolgswelle sind viele Menschen auf einen Schlag eingetreten - das hat unsere Mitgliederstruktur komplett umgekrempelt. Es ist aber unwahrscheinlich, dass es so einen Umsturz noch einmal geben wird. Auch wachsen die Neumitglieder von damals in die Partei hinein, machen ihre Erfahrungen, lernen dazu. Die Professionalisierung, die wir so dringend brauchen, passiert also schleichend von ganz allein. Dazu kommt, dass uns ein Wahlkampf bevorsteht. Das schweißt zusammen. Für einen gemeinsamen Zweck besinnen wir uns wieder mehr auf unsere Gemeinsamkeiten statt unsere Unterschiede, und lernen, zusammenzuarbeiten, weil wir es müssen. Niemand möchte Schuld an einem schlechten Wahlergebnis sein. Probleme, die unterschwellig schwelen, werden im Wahlkampf auf den Tisch kommen und abgehandelt werden, damit es weitergehen kann - einfach, weil es dann nötig ist. Das löst nicht alles - aber mit Sicherheit einiges.
Das hilft mir alles nicht weiter.
Überraschung: es gibt Probleme, die sich mit Motivation nicht beheben lassen. Solche Probleme brauchen Lösungen. Finde sie. Such dir Hilfe. Suche nicht in einem Blogpost mit vage aufmunterndem Titel und albernen Zwischenüberschriften.
Eine Partei ist kein Kindergarten, und man muss sich nicht alles gefallen lassen. Manche Beschlüsse sind objektiv schlecht. Gelegentlich wird sich nicht an Prozesse oder Satzung gehalten, manchmal dem Programm grundsätzlich entgegengesetzte Meinungen proklamiert. Ja, manchmal muss man etwas tun. In dem Fall ist dein Problem aber nicht die fehlende Motivation (und fällt damit nicht mehr in die Zuständigkeit dieses Textes).
Zum Zeitpunkt der Entstehung war ich dem wenig positiv gegenüber eingestellt, aber: Austreten geht auch. Wenn es einem schwerfällt, sich zurückzuziehen, weniger zu machen oder anderes zu machen: sich komplett und formell loszusagen, kann auch ein Befreiungsschlag sein.21.05.2013Warum ich der MV-Mailingliste den Rücken kehre (mit Statistik!)
Ich lese die MV-Liste jetzt seit dem 6. Juli 2012, die von Rostock einen Monat länger. In dieser Zeit habe ich 76 Mails in 33 Themen geschrieben und bin der 19.-produktivste Schreiber dieses Jahres. Von den 3458 Mails seit Januar habe ich über 2000 tatsächlich gelesen. Ich habe die ML als Informationsquelle schätzen gelernt: Man bekommt Ankündigungen, Veranstaltungen, Themen, die gerade aktuell sind, bequem ins Emailpostfach und kann sie jederzeit nachlesen. Als Ergänzung zu Stammtischbesuchen ist sie damit sehr wichtig (insbesondere, da unsere Öffentlichkeitsarbeit diesen Punkt nicht abdeckt – diese Dinge würde ich gerne auch über Twitter, Facebook, die Webseite, den Kalender erfahren, bin aber auf die ML angewiesen, um auf dem Laufenden zu sein.)
Was die Mailingliste aber nicht ist: Ein geeignetes Medium für Diskussionen oder produktive Arbeit.
Warum?
Sie ist nicht repräsentativ.
30% des Emailaufkommens wurde von vier Leuten verfasst. Die zehn häufigsten Schreiber sind verantwortlich für mehr als die Hälfte aller Emails – und das bei über 140 verschiedenen Absendern insgesamt. Unter den wenig bis gar nicht Schreibenden sind Menschen, die ich vom Stammtisch, Parteitagen oder Aktionen kenne. Es ist also anzunehmen, dass auch in anderen Städten und Kreisen Aktive sind, die die Mailingliste kaum oder gar nicht nutzen. (Deren Meinung ist also dort so gut wie nicht vertreten.) Sobald es tatsächlich zu inhaltlicher Auseinandersetzung mit Themen kommt, liest man die immer gleichen Leute.
Ja, dabei kommt es zum Austausch von Argumenten. Unter anderem. Repräsentativ für die Meinung der Basis ist das jedoch nicht.
Sie ist unfreundlich.
Unter den Vielschreibern sind Menschen, die sich hauptsächlich unsachlich, themenfremd oder wenig zielführend äußern. Das hilft nicht dabei, eine offene Diskussionskultur zu schaffen. Jedes längere Thema enthält Beiträge, die die Berechtigung der Diskussion in Frage stellen (und damit diese Debatten länger am Leben erhalten). Regelmäßig wird Menschen die Verteilung ihrer Aufmerksamkeit vorgeworfen – dass sie sich mit bestimmten Dingen beschäftigen, oder mit bestimmten anderen Dingen nicht. Das ist destruktiv. Dazu kommen auch immer wieder Unterstellungen, offene und weniger offene Beleidigungen und zum Teil absurde Spekulationen über heimliche Hintergedanken einzelner Standpunkte.
Es gibt eine Menge Beiträge, die stehen irgendwo dazwischen: Nicht ganz sachlich, schlecht oder gar nicht begründete Argumente und Meinungen, die ich weder teile noch nachvollziehen kann. Das ist okay. Angriffe auf andere Teilnehmer der Diskussion, Unterstellungen: Nicht okay.
Der
Appell hat eine zeitlang dazu geführt, dass insgesamt weniger geschrieben wurde, dass sich viele Äußerungen des lieben Friedens willen einfach verkniffen wurden, und dass manche Dinge lieber direkt angesprochen wurden als für alle auf der Liste. Das hat sehr gut getan. Auf der Unterzeichnerliste fehlen mir jedoch einige Leute, die ich dort sehr gerne gesehen hätte, und zwei Menschen sind ohne Begründung vom Appell zurückgetreten. Damit ist unklar, ob das ein vorübergehender Effekt war oder nicht. Ich für meinen Teil werde mich weiterhin bemühen, ihn einzuhalten – die beschriebenen Verhaltensversprechen sind eine gute Richtlinie für jede Kommunikation. Nicht nur für Unterzeichner, nicht nur auf der Mailingliste, nicht nur unter Piraten.
Sie macht hilflos.
Die Mailingliste hat keinerlei regulierenden Mechanismen, um mit diesen Problemen umzugehen. Sie wird nicht moderiert. Beiträge können nicht mehr gelöscht oder editiert werden. Emails sind öffentlich im Sync-Forum – jedes über-die-Stränge-Schlagen ist für alle Zeiten nachlesbar.
Es heißt, man solle Trolle nicht füttern. Unwahrheiten oder Angriffe unkommentiert in aller Öffentlichkeit stehenzulassen kann aber auch nicht die Lösung sein. Denn es gibt etwas, was man immer leicht vergisst: Trolle wissen nicht, dass sie Trolle sind. Es mag Menschen geben, die bewusst Diskussionen sabotieren und Menschen schaden wollen. In aller Regel passiert das jedoch durch Menschen, die nicht wissen was sie tun, oder sich im Recht sehen. Wie überall gilt jedoch auch hier: Etwas kaputtzumachen ist sehr viel leichter als etwas aufzubauen. Dieses destruktive Klima hemmt den ganzen Landesverband, vergrault potentielle Unterstützer und vertreibt produktive Mitglieder. Der vielgerühmte Flausch ist hier Teil des Problems: Er versucht, Dinge unter den Teppich zu kehren, unterbindet Kritik, egal wie sie geäußert wird und schützt unprofessionelle Strukturen, die nicht funktionieren.
Das soll nicht heißen, dass es gar kein Eingreifen gab, wenn etwas aus dem Ruder lief: Von einzelnen Mitgliedern (und auch schon mal vom Vorstand in sehr löblicher Manier) gab es immer mal wieder (wenn auch nicht oft genug) Hinweise darauf, wenn das Thema verfehlt wurde, der Tonfall problematisch war oder ein Beitrag versucht hat, eine Diskussion zu diskreditieren. Genützt hat es oft gar nicht und nie nachhaltig.
Sie blickt auf Interna herab.
Jedes Thema, dass sich mit den inneren Angelegenheiten der Partei befasst, wird als Selbstbeschäftigung abgetan und bekommt meist sehr schnell einen Beitrag der Sorte „habt ihr nichts Besseres zu tun?“. Mit dieser Begründung könnten wir die Partei eigentlich sofort auflösen: Eine Organisation muss sich organisieren. Und in jeder Organisation gibt es Menschen, die sich mehr damit befassen, wie sie organisiert ist, als mit ihrem eigentlichen Zweck. Und das ist gut so. Denn gute Organisation dient dazu, Handlungsfähigkeit herzustellen und es so einfach und produktiv wie möglich zu machen, dass sich Menschen in ihr engagieren. Wem persönlich das Interesse daran fehlt, muss sich damit nicht auseinandersetzen. Wieder und wieder wird an solchen Stellen jedoch blockiert.
Die Beteiligung gibt mir an dieser Stelle recht: Von den 25 Themen, die dieses Jahr mehr als zwanzig Mails erreicht haben, waren 19 (!) Interna. Und nur am Rande: Viele Kernthemen der Piratenpartei betreffen das „Wie“ der Politik und nicht das „Was“. Die Forderung nach Transparenz, mehr Basisdemokratie, mehr Mitbestimmung und Barrierefreiheit: Was sind diese Themen, wenn nicht Ansprüche an die Art und Weise, auf die Demokratie gelebt wird? Damit sind viele dieser Interna auch gleichzeitig Inhalte – und wahlkampfrelevant. Ein fortschrittliches innerparteiliches Wahlsystem oder eine ständige Mitgliederversammlung, die auch Programm beschließen kann, können Vorbildwirkung dafür haben, wie wir uns Politik auch außerhalb unserer Partei vorstellen. Und das zieht ebenso Wähler an wie unsere anderen Inhalte.
Sie überzeugt ja doch niemanden.
Ich frage mich oft, ob Argumente je jemanden überzeugt haben. Die Mailingliste ist ein gutes Beispiel dafür: Selbst wenn alles bereits gesagt wurde, streiten Einzelne weiter und weiter, wiederholen sich und degenerieren in Emotionsargumente oder Zirkelschlüsse („das ist doof, weil doof“). Die Liste zeigt sich dabei oft erstaunlich faktenresistent.
Die Möglichkeit zum Austausch von Argumenten und zur Begründung von Standpunkten ist wichtig. An sich. Die Liste schießt darüber regelmäßig weit hinaus und ist (siehe „nicht repräsentativ“) bestenfalls ein Zerrbild der Meinungen im LV.
Fazit: Ist das Politik oder kann das weg?
Ich werde die Mailingliste weiter lesen. Sporadisch. Denn informieren über aktuelle Veranstaltungen, Ausschreibungen, Anträge, Beschlüsse und Themen tut sie mich weiterhin. Auf den Diskurs-Teil kann ich jedoch getrost verzichten.
LiquidFeedback bietet die Möglichkeit, über Begründungen, Anregungen und Alternativanträge Argumente aufzulisten und mitzuteilen. Seit einiger Zeit sind auch Abstimmkommentare möglich, so dass die eigene Entscheidung mit einer Stellungnahme versehen werden kann. Auf Realversammlungen werden Anträge zusätzlich mündlich vorgestellt. Fragen an Antragsteller kann man ebenso immer stellen – ob per Email, Anregung oder mündlich. Über das Für und Wider von Entscheidungen kann ich auf dem Stammtisch reden, den Kontakt zu Menschen außerhalb auch über andere Kanäle suchen.
Ich habe in meinem einen Jahr Partei Menschen brennen sehen für ihre Sache, für unsere Ziele. Ich habe auch Menschen ausbrennen sehen. Ich selbst will mir das nicht geben. Für meine Meinung kann ich auch anderswo einstehen – in meinem Blog, auf Twitter, in persönlichen Gesprächen, im Wahlkampf und an Infoständen.
Mein Ja zur Partei, zu unserem Programm steht und bleibt unberührt. Der Mailingliste MV als Medium, das ich aktiv nutze, sage ich Tschüß.
28.04.2013Debugging
in moonlight i'm coding
- no, cut out the moon!
my windows are darkened
and it sets really soon
there's no way of knowing
if I'll be here still
when it's again rising
up over my sill
at nighttime i'm coding
in my darkened room
a sense of foreboding
then suddenly: boom
I look on in terror
as i wrathful spy
a horrible error
which eluded my eye
though finally i know
the trouble's root
all my workarounds now
are suddenly moot
i have spent so much time
looking where i went wrong
for me now to find out
i was right all along
so i start deleting
my helper functions
the no longer needed
logical junctions
hello world - it's working
i shout out in glee
and i curse thee, bracket
for going missing on me
16.03.2013Ein zeitgemäßeres Bildungssystem
Denke ich so an meine Schulzeit zurück, fallen mir eine Reihe Kritikpunkte wieder ein, die über ein pubertäres "Schule ist doof" hinausgehen und die ich heute noch unterschreiben könnte. Sie bilden für mich die Grundlage auf der ich nach anderen Lösungen suche, da ich als Lehrerkind eigentlich immer versucht habe, Schule zu mögen. Es ist mir nicht gelungen. Das liegt zum Teil natürlich auch an spezifischen Umständen (Lehrern, Mitschülern, oh, was sind denn das für Hormone plötzlich?), aber zum Teil auch an externen Gegebenheiten, die ich als Design-Fehler betrachte.
1. Der Unterricht beginnt viel zu früh.
Dass dies an erster Stelle kommt, hat mehr mit meiner Veranlagung als schlafgestörte Nachteule zu tun als mit der Priorität, die ich für andere sehe. Fakt bleibt aber, dass Schlafforscher, Neurologen, Ärzte schon lange gleichermaßen über den frühen Unterrichtsbeginn klagen. Zwar gibt es im Schlafrhythmus individuelle Unterschiede und kann man sich auf frühe Aufstehzeiten üblicherweise durch schlafhygienische Maßnahmen (das heißt wirklich so und bedeutet: früh ins Bett gehen, Tagesablauf strukturieren, sich tagsüber bewegen und Einschlaf- und Aufstehroutinen entwickeln) einstellen, ein dauerhaft dem Biorhythmus nicht entsprechender Tagesablauf macht aber krank, unkonzentriert und führt nicht gerade dazu, dass Schüler gern zur Schule gehen. Mit Eintritt in die Pubertät verändern sich auch die Schlafgewohnheiten - dass Jugendliche überproportional Langschläfer sind, ist hinreichend belegt (oft bildet sich das wieder zurück - "wächst sich" also "raus" - allerdings nicht vor Ende des Schulalters).
2. Klassenverbände.
Klassenverbände sollen eine Bezugsgruppe für Schüler bilden, das sehe ich ein. Schule ist auch kein Einzelunterricht, schon allein daher müssen Schüler in Gruppen zusammengefasst werden. Das Konzept des starren, unveränderlichen Klassenverbands ist darauf ausgelegt, Schüler in Gruppendynamikprozesse einzubinden zur Entwicklung von Sozialkompetenzen. Wie gut das funktioniert, zeigen Mobbingstatistiken. Um ein tatsächliches "Wir"-Gefühl zu erzeugen, das alle einbezieht, reicht das Setzen in einen Klassenraum und die Ausrichtung einer Klassenfahrt alle paar Jahre jedoch nicht aus. Man wird blind in eine Gruppe geworfen mit Menschen, die zufällig aus der gleichen Gegend im gleichen Alter sind - ich finde das keine ausreichende Begründung, um der Klasse als solche so viel Bedeutung beizumessen, wie es getan wird. An Grundschulen setzen sich jahrgangsübergreifende Klassen langsam durch - der starre, unantastbare Klassenverband an weiterführenden Schulen bleibt jedoch bestehen. Das muss nicht heißen, dass dauerhafte Jahrgangsmischung der Weg zu Weltfrieden und ewigem Glück ist, sondern kann auch durch Mischformen und Kursunterricht erreicht werden.
3. "Und wozu muss ich das jetzt wissen?"
Bildungsinhalte sind oft stark entkoppelt von ihrer reellen Anwendung. Oft wird auf blindes Auswendiglernen statt auf die Vermittlung von Fähigkeiten und das Verständnis von Konzepten gesetzt. Ich erinnere mich gut an einen Biologietest zu Genetik, in dem Punkte für Fragen wie "In welchem Jahr trat Darwin seine Seereise an, wie hieß das Schiff und auf welchen Inseln machte er seine Beobachtungen an Finken?" vergeben wurden. Solche Informationen sagen nichts über meinen Wissensstand, sondern ausschließlich über meine Gedächtnisleistung. Darüber hinaus haben sie auch nichts mit Biologie zu tun und sind jederzeit nachschlagbar. Natürlich können die Lehrpläne erst einmal nichts für die Testfragen meiner damaligen Biologielehrerin, dieses Verhalten ist aber kein Einzelfall. Übervolle Lehrpläne fordern zum Einpauken auf, nicht zum Verstehen.
4. "Das brauch ich doch nie wieder!"
Allgemeinbildung ist eine schöne Sache - wenn es jedoch um Spezialwissen geht, das kaum jemand über die Schule hinaus behält, geschweige denn anwendet, sollte überlegt werden, es aus dem Pflichtlehrplan zu streichen. Mehr Auswahl in Lerninhalten, eine generell flexiblere Gestaltung von Schule könnte verhindern, dass sich zukünftige Übersetzer mit Integralrechnungen und zukünftige Ingenieure mit einer zweiten Fremdsprache herumschlagen müssen. Diese Dinge gehören unbedingt in das Angebot der Schulen - aber sind sie wirklich unerlässlich für jeden, der ein Studium anstrebt, egal in welchem Bereich? Natürlich sollte eine solide Grundbildung vermittelt werden, in jeder Schulform und in jedem Fach, aber Lehrpläne schießen über dieses Ziel oft hinaus (nicht nur durch die Inhalte, auch durch das Ausmaß, in dem sie in die Tiefe gehen), mit dem Ergebnis, dass ein Großteil des vermittelten Wissens schnellstmöglich wieder vergessen wird, um Platz für die nächsten Inhalte zu schaffen.
5. Mangelnde Flexibilität
Viele Ansätze zur Integration von "Problemkindern", seien es sozial schwache, lernbehinderte, körperbehinderte, Schulverweigerer, Hochbegabte, Nichtmuttersprachler oder Teilleistungsschwache, gehen davon aus, dass es sich (jeweils) um Einzelfälle handele, die in eine "normale" Klasse zu integrieren sind. Nicht nur sammeln sich Sonderfälle jeglicher Art in sozialen Brennpunkten, auch die allgemeine Verteilung von Kindern mit besonderen Bedürfnisse wird unterschätzt. Zählen wir die oben aufgeführten Gruppen mal zusammen, kommen wir zum Schluss, dass mit so ziemlich jedem Kind irgend etwas nicht stimmt, und unter den Gruppen gibt es auch noch Überlappungen. Die "normalen" Schüler, die die "schwierigen" ausgleichen sollen, gibt es nicht, jedenfalls nicht in einer beliebig belastbaren unerschöpflichen Menge. Das System selbst muss in der Lage sein, auf Andersartigkeit einzugehen, anstatt zu hoffen, dass der Lehrer und Klassenverband das Kind schon irgendwie ins übliche Muster gepresst bekommen.
Die Lösung: Vollverkursung
Genug gejammert: auf die meisten dieser Schwierigkeiten gibt es eine einfache Antwort: die Einführung eines Kurssystems. Was ist das? Jedes Fach in jeder Klassenstufe stellt einen Kurs dar. Es gibt Pflicht- und Wahlkurse, und nicht alle Schüler einer Klasse müssen die gleichen Kurse besuchen. An gymnasialen Oberstufen wird dieses System zum Teil verwendet, in anderen Schulformen gibt es, wenn's hochkommt, vielleicht ein Wahlpflichtfach, bei dem man eine Auswahl hat.
Warum wäre das gut? Da wären zunächst einmal die Klassenverbände: Schüler lernen schneller und besser in homogenen, entwickeln aber besseres Sozialverhalten in heterogenen Gruppen. Eine Verkursung eröffnet hier Möglichkeiten, beides zu bieten: Besonders in den Kernfächern könnten die Schüler nach Leistungsniveau eingeteilt werden, sind aber in anderen und für Klassenveranstaltungen in ihrer heterogenen Gruppe eingebunden. Schüler mit Teilleistungsschwächen oder Teilbegabungen können ihr Potential ausschöpfen, ohne auf allen anderen Gebieten unter- oder überfordert zu werden. Auf besondere Bedürfnisse kann schon strukturell eingegangen werden - die Schule muss nicht mehr ausschließlich um den Sonderbedarf "drumherumarbeiten". Das kann Lehrern sehr viel Arbeit ersparen und wirkt der Ausgrenzung von Einzelnen entgegen. Ein Kurssystem könnte den Weg freimachen für flexiblen, individuellen Unterricht bei gleichbleibendem Aufwand für Lehrer und Verwaltung.
Bislang lässt sich der Unterricht für Einzelne nur durch Wechsel der Schulform, Sitzenbleiben, Überspringen von Klassen oder durch Nachhilfeunterricht anpassen. Angemessene Förderung gibt es nur in Spezialklassen oder außerschulischen Extrastunden. Das kann sich ändern.
Ich will nun nicht zu viel auf einmal fordern, aber die Möglichkeiten gehen noch weiter: ein langsamer Lerner könnte im Jahr weniger Kurse besuchen und durch Verlängerung der Gesamtschulzeit trotzdem einen guten Bildungsabschluss erreichen. Das ist auch für Schüler wichtig, die besonderen außerschulischen Stress haben, z.B. durch Leistungssport - das CJD in Rostock z.B. verfügt über einen Sportlerförderzweig, der in neun Jahren statt acht zum Abitur führt und den Sportlern dadurch ermöglicht, ihren Trainingsplan einzuhalten und zu Wettbewerben zu fahren, ohne auf einen guten Bildungsabschluss verzichten zu müssen.
Auch der zweite Bildungsweg könnte dadurch mit deutlich weniger Hürden verbunden sein - es wäre möglich, Leistungen in einzelnen Fächern nachzuholen und so seinen gewünschten Bildungsabschluss zu erlangen, ohne Jahre der Wiederholung auf sich zu nehmen.
In meiner Wunschvorstellung ist jeder belegte Kurs in jedem Jahr oder Semester eine Art Abschluss - Arbeitgeber könnten statt nach Abitur zum Beispiel nach bestimmten Kursen in bestimmten Fächern fragen, einzelne Fächer hätten ebenso bestimmte Zugangsvorraussetzungen (Physik 8 erfordert Mathematik 5, oder Ähnliches). Die jeweiligen Inhalte könnte man auch in unterschiedlichen Geschwindigkeiten vermitteln - es könnte einen Physik-8-Kurs halbjährig oder ganzjährig geben, so dass ein schneller Lerner seinen Bildungsabschluss früher erreichen könnte, ohne dass die erforderlichen Stunden seine gesamte Freizeit verschlingen. Das ist allerdings Zukunftsmusik und muss an anderer Stelle erläutert werden.
Wichtig ist: Es sollte möglich sein, unterschiedliche Fächer auf unterschiedlichen Leistungsniveaus zu belegen. Denn dass unser dreigliedriges Schulsystem in der Praxis stärker nach sozialer Herkunft als nach den Fähigkeiten der Schüler sortiert, ist leider umfassend untersucht und bekannt. Auch wandern sehr viel mehr Schüler von einer höheren Schulform in eine niedrigere als umgekehrt. Wenn man die Schwellen für die Anpassung von Lernzielen auf den einzelnen Schüler senkt, kann man hier vielleicht entgegenwirken. Selbst das Wiederholen ganzer Klassen würden unnötig, ohne dass Schüler in einzelnen Fächern komplett den Anschluss verlieren, weil zu viele Grundlagen fehlen.07.03.2013Ockhams Rasiermesser, oder: Von Absichten und ihrer Seltenheit
Ich bin der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ich würde sogar soweit gehen, zu sagen, dass ich das Zentrum des von mir wahrgenommenen Universums bilde. Ich denke auch, das ist weder eitel noch arrogant, sondern normal. Nun geht das aber vermutlich nur mir so. Ich kann nicht von anderen erwarten, mich im Zentrum ihres Lebens zu sehen, denn da steht üblicherweise schon jemand anderes - sie selbst. Das bedeutet aber auch, dass vermutlich niemand so viel über mich und Dinge, die mich betreffen, nachdenkt wie ich. Daher unterstelle ich üblicherweise Unabsichtlichkeit.
Wenn beim Pizzaessen in einer Gruppe kein Stück meiner Lieblingspizza übrig bleibt, weil ich auf Toilette war, als die Pizza ankam, dann könnte ich annehmen, dass mir die anderen nichts gönnen, oder mich ärgern wollten, oder IHR SCHWEINE IHR WISST DOCH DASS ICH THUNFISCH MAG! Tatsächlich aber ist die wahrscheinlichste Antwort Unabsichtlichkeit. Vermutlich hat niemand an meine speziellen Vorlieben gedacht. Noch wahrscheinlicher: mein Lieblingsessen ist für niemanden außer mich sonderlich relevant - selbst wenn ich Präferenzen erwähnt habe, wird sich kaum jemand daran erinnern. Vielleicht lag die Thunfischpizza obenauf.
Insgesamt gehe ich glücklicher durchs Leben, wenn ich pauschal erst einmal Unabsichtlichkeit unterstelle, weil ich mich dann nur über doofe Pizza und nicht über wahrgenommenes Mobbing ärgern muss, unabhängig davon, was tatsächlich die Gründe für meine Thunfischlosigkeit waren. Auch ist unterstellte Unabsichtlichkeit eine gute Denkübung: man sollte von jeder Sache, die wert ist, betrachtet zu werden, nach mehreren Erklärungsmöglichkeiten suchen. Das gilt nicht nur für Pizza.
Verschwörungstheorien haben gegenüber anderen Theorien (eher: Hypothesen) einige Alleinstellungsmerkmale. Zum einen werden Gegenbeweise als Argumente *für* die Theorie ausgelegt (dass die Presse nicht von Aliens unter uns berichtet, ist ein Beweis dafür, dass die Aliens die Presse kontrollieren, und nicht etwa dafür, dass es sie nicht gibt (die Aliens, nicht die Presse)). Weiterhin ist in der Regel jemand schuld (die CIA! Die Juden! Die Bilderberg-Konferenz!) - das bedient vor allem Wunschdenken und macht es angenehm, daran zu glauben. Und zu guter Letzt gibt eine gute Verschwörungstheorie eine einleuchtende, in sich geschlossene Erklärung, die haarsträubend unnötig kompliziert ist.
Ockhams Rasiermesser (auch: Prinzip der Parsimonie) besagt, dass die einfachste Erklärung (die, die mit den wenigsten Variablen und Grundannahmen auskommt) die wahrscheinlichere ist. Unterstellen wir grundsätzlich Unabsichtlichkeit, lassen sich die meisten Vorgänge mit einem einfachen "das ist von ganz allein so passiert" erklären - wobei "von ganz allein" nicht mit "zufällig" gleichzusetzen ist. Denn dass die Thunfischpizza zuerst alle ist, muss kein Zufall sein - möglicherweise ist es die einzige, die nicht angebrannt ist, oder es handelt sich bei Thunfisch allgemein um einen überlegenen Geschmack (meine bevorzugte Hypothese). Aber äußerst unwahrscheinlich ist, dass sich Menschen, die ich immerhin genug mag, um Pizza mit ihnen zu teilen, sich gegen mich verschworen haben, oder dass einzelne Fadenzieher im Hintergrund mein Pizzageschick lenken.
Wer glaubt, dass es einen Schuldigen braucht, um gesellschaftliche Phänomene zu erklären, spricht nicht nur den Individuen, die an ihnen beteiligt sind, ihre Agenda ab, sondern ist vor allem eins: unkreativ. Alles, was getan wird, ergibt für den, der es tut, in dem Augenblick, in dem es getan wird, einen Sinn. Dieser Sinn bezieht sich aber auf die handelnde Person, nicht auf den Außenstehenden, auf den das Handeln einen Einfluss hat. Ergo: Wer meine Thunfischpizza isst, denkt dabei an seinen eigenen Appetit, und nicht an meinen. Die Unfähigkeit, über den Tellerrand (höhö) zu blicken, lässt den Betrachter zu falschen Schlüssen gelangen, wenn er die Wichtigkeit, die er für sich selbst hat, auch anderen unterstellt.
Verschwörungstheorien beinhalten fast ausnahmslos unterstellte Absicht. Dahinter verbergen sich in der Regel mehrere Gedanken. Zum einen: "Da steckt noch mehr dahinter!" - der Unglaube, dass individuelle, voneinander unabhängige Prozesse zu einem Ergebnis geführt haben. Zum anderen: "Das richtet sich gegen mich/uns alle/jemanden!" - der Gedanke, dass man selbst eine Rolle spielt im Entscheidungsprozess anderer.
Ich komme zu dem Schluss, dass Wahnideen sich (unter anderem) auf Eitelkeit stützen. Wenn jemand erklärt, dass einzelne Menschen viel Mühe auf sich genommen haben, um andere Menschen zu beeinflussen, Dinge zu tun, die wiederum anderen Menschen schaden, obwohl es genug Gründe gibt, aus denen diese anderen Menschen diese Dinge ohnehin hätten tun wollen, dann möchte ich ihn gerne in den Arm nehmen und sagen: "Du bist wichtig. Ich denke an dich." Vielleicht hilft's ja.
09.01.2013Wenn das Arbeitsamt dein Freund wäre
Die Bundesagentur für Arbeit ist nicht nur eine Institution. Wer sich in ihre Fänge begibt, baut unweigerlich eine Beziehung mit ihr auf, repräsentiert durch Sachbearbeiter, Empfangsdamen, Callcentermitarbeiter und namenlose Briefe. Jede Beziehung ist dabei einzigartig, die Person des repräsentativen Anprechpartners wird verdrängt und durch Das Arbeitsamt ersetzt, ein Wesen, das weder atmet noch lebt, und doch ebenso tief in unsere Psyche dringt, wie es ein Liebhaber tut.
Was also, wenn das Arbeitsamt dein Freund wäre?
Dein Job hat gerade mit dir Schluss gemacht. Oder du mit ihm. Vielleicht habt ihr euch friedlich auseinandergelebt. Vielleicht hat er dich benutzt, verletzt, missbraucht, vielleicht auch versorgt, befriedigt und ausgefüllt. Ob du ihm hinterhertrauerst oder froh bist, dass du ihn los bist, ist erst einmal belanglos: er ist nicht mehr da. Und du, auf der Suche nach einem neuen, begegnest Dem Arbeitsamt, in der Disco vielleicht oder beim Einkaufen.
Er ist nicht besonders hübsch, und weil du weißt, dass er den jungen Dingern schon im Schulalter hinterhersteigt, willst du gewiss nicht bei ihm bleiben. Aber er stellt dich seinen Freunden vor, bringt dich in gute Gesellschaft, fängt dich auf und stützt dich, jetzt, wo du alleine dastehst. (Er weiß, was du brauchst.)
Er lädt dich zu sich ein. Er hört dir zu. Er will alles über dich wissen. Er sagt dir, dass du etwas ganz Besonderes bist. Und wenn nicht: er wird dir helfen. Er kann dich besser machen. Du wirst jemanden finden, der dich zu schätzen weiß. Wenn du niemanden kennst, der dich interessiert, gibt er dir Nummern von Leuten, die du dir ansehen solltest. (Er weiß, was du brauchst.)
Er ist nicht eifersüchtig auf die anderen. Er fragt nach ihnen, googelt sogar ihren Namen. Meist weiß er auch genau, warum du gerade wieder eine Abfuhr bekommen hat. Er ist ehrlich mit dir, und sagt dir darum, dass es deine Schuld ist. Und dass du es besser machen kannst. Er wird es dir beibringen, und er wird dir sagen, wer richtig für dich ist. (Er weiß, was du brauchst.)
Er gibt dir Flirt-Hilfe, schickt dich zum Farb- und Typ-Berater und stellt dir neue potentielle Partner vor. Er erwartet vollständige Berichte über jeden One-Night-Stand und jedes Date, und er telefoniert dir misstrauisch hinterher, ob du auch dagewesen bist. Er verlangt regelmäßige Treffen. Er verweigert dir jede Hilfe, wenn du einmal nicht da warst oder ihm nicht alles gesagt hast. Er kann dir doch nicht helfen, wenn du ihm nicht vertraust. (Er weiß, was du brauchst.)
Weil du deine Sache nicht gut genug machst, sagt er dir, mit wem du dich zu treffen hast, wann du es tust und was du mit ihm machen sollst. Er lässt dich in Ruhe, solange du bei anderen bist, sofern er davon weiß. Du wagst dir gar nicht vorzustellen, was er machen würde, wenn du ihn betrügst.
Das Arbeitsamt ist nicht dein Freund.
Es ist dein Zuhälter.
04.05.2012Wir gehen jetzt miteinander
Aufgefallen sind sie mir schon 2009. Oh, diese schönen Augen, Plakate meine ich, die machen sich schon schick. Rebellisch, engagiert, noch neu genug, um geheimnisvoll zu sein, trotz aller Transparenz und Offenheit. Ein Hauch von Abenteuer, Revolution, alles anders machen, nur nicht so sein wie die anderen. Eine neue Pubertät winkt am politischen Horizont. Nach kurzem Liebäugeln aus der Ferne folgten ein paar One-Night-Stands an der Wahlurne; nichts Festes, keine Nummern austauschen, leidenschaftslos und zweckgebunden - 'Besser als nichts' und 'Hoffentlich bereu' ich das nicht, wenn ich wieder nüchtern bin', eben so, wie man mit rebellischen Fremden umgeht.
Aber dann habe ich über den letzten Bundesparteitag gelesen. So viele kluge Sachen haben sie beschlossen, so viele Dinge, die ich auch schon so lange sagen wollte. Es ist, als fände man in einem Country-Club noch jemanden, der auf Post-Industrial-Indie-Punk steht, der ungestüme Weltverbesserer entpuppt sich als erfahrener Planer und der Schönling in der Lederjacke kann lesen. Ich war hin und weg. Bis ich den ersten Schritt machte, dauerte es eine Weile, schließlich bin ich schüchtern und noch unerfahren. Aber ein paar Monate und einen Mitgliedsantrag später habe ich ein Date.
Auf dem ersten Stammtisch bin ich zurückhaltend und nervös, höre zu und beobachte, aber sie reden vor allem über Organisatorisches, Kleinigkeiten: Dinge, in die ich nicht eingebunden bin. Es geht nicht um das große Ganze und ich habe nicht das Gefühl, sie besser kennengelernt zu haben. Immerhin, gut sehen sie aus, unwohl fühle ich mich bei ihnen nicht, und ein paar nette, kurze Gespräche finden auch schon statt. Unverhofft daher die so kurzfristige Einladung zum nächsten Bundesparteitag, zwei Wochen später. Ein wenig schnell, ja, aber so leicht verschreckt man mich nicht. Irgendwann wird man ja mal zusammen in den Urlaub fahren dürfen.
Es geht nach Neumünster. Die folgenden zwei Tage reden wir ununterbrochen, schauen uns lange in die Augen, und auf einmal ist es, als hätten wir uns schon immer gekannt: wir tauschen peinliche Anekdoten, furzen voreinander und lernen unsere besten wie auch schlechten Seiten kennen, gründlich, methodisch, in hitziger Debatte und im so herausgerutschten Nebensatz. Und wir verlieren das Bedürfnis, uns zu beeindrucken.
Nach dieser gemeinsamen Reise habe ich das Gefühl, alles zu wissen, was ich unbedingt wissen muss, um eine informierte, ehrliche Wahl treffen zu können; ich weiß, ob sie meine Freunde mögen, wie sie meine persönlichen Ziele und Werte beurteilen, was wir miteinander alles machen können und was nicht, ich kenne ihre Pläne für die Zukunft, ihre Bedürfnisse und Forderungen, und ich weiß, wie sie nach zu wenig Schlaf an einem Regentag aussehen. Ja, das ging sehr schnell, und ja, das ist gut so.
Mutti, Vati, das sind die Piraten.
Wir gehen jetzt miteinander.
15.08.2010Putzen.
Immer wenn bei uns eine Katze stirbt, haben wir bald darauf eine neue. Das hat nichts mit Reinkarnation zu tun, sondern mit Gewohnheit: wir haben immer drei. Immer. Solange es drei sind, fällt es nicht so auf, wenn eine fehlt. Manchmal kommt die Neue aus der Nachbarschaft, manchmal über eine Zeitungsannonce. Diesmal kommt sie aus dem Tierheim.
Man sollte meinen, das sei eine gute Sache, doch ich fühle mich zurückversetzt in Zeiten, in denen ich dem Greuel persönlich gegenüberstand. Ich werde diese Katze nicht so lieben können wie ihre Vorgängerin. Zu deutlich sehe ich alles noch vor mir.
Ich habe mal im Tierheim gearbeitet. Ehrenamtlich. Eher aus Langeweile als aus Gutherzigkeit, aber das muss ja keiner wissen. Ich war daher auch nicht enttäuscht, dass zum Streicheln süßer Tierbabies eher wenig Zeit bleibt, sofern überhaupt süße Tierbabies vorhanden sind. Die meisten Tiere sind alt, kränklich und 'brauchen einen Besitzer mit Hunde/Katzenerfahrung'. Das ist Tierheimsprache für bissig, eigensinnig, nicht oder schlecht erzogen, unsauber und laut. Als Katzenbesitzer mit Katzenerfahrung begann der Tag für mich in der Katzenquarantäne, wo die Neuzugänge sich aufhalten. Acht Käfige, jeder mit zwei Türen und einer Trennwand in der Mitte zum Abschiebern, das heißt: Wand hineinschieben, auf der Seite ohne Katze saubermachen, Wand raus, Katze auf die andere Seite locken, andere Seite säubern. So jedenfalls die Theorie, tatsächlich ist die Quarantäne notorisch überfüllt und die Trennwände bleiben dauerhaft an ihrem Platz: eine Katze links, eine rechts. Jungtiere teilen sich eine Seite zu zweit. Eine Box besteht aus nüchternem Stahl, bietet etwa einen halben Quadratmeter Platz und ist eingerichtet mit einer kleinen Toilette, einem Futter- und Wassernapf sowie einem kleinen Stück Teppich, der auf den ausgelegten Zeitungen liegt. Zum Ausstrecken ist nur dann Platz, wenn der Kopf im Napf liegt und man sich elegant um das Klo herumrollt. Einige Tiere benutzen die Toilette als Körbchen und sehen dementsprechend aus. Stress führt auch bei Tieren gelegentlich zu einer nervösen Verdauung, wer hier putzt, sollte sich schnell an Kacke, Kotze und Pisse gewöhnen, und die landet nicht immer da, wo sie hinsoll. Für alle sechzehn Tiere bleibt mit anschließendem Fegen und Wischen des Raumes nur eine Stunde, und wehe, wer länger braucht: der Letzte macht den Abwasch. Das ist zu Hause auch so und führt zu hektischem Essen, doch während ich schrubbe, sind andere im Krankenstall, bei den Kleintieren oder Hunden zugange, und es sind nicht nur Futternäpfe, die in den Abwasch gelangen. Die Eimer, in denen Katzenstreu, verschmähtes Futter und Ausscheidungen gesammelt werden, sehen nach dem Entleeren kaum besser aus als vorher, und jede zehnte Katzentoilette wandert ebenso ins Wasser, weil bestimmte Dinge daran kleben. Einer meiner Schützlinge hat Durchfall, den ich als Durchflug bezeichnen möchte: es entbehrt jeder physikalischen wie physiologischen Grundlage, dass dieses Tier in der Lage ist, gegen die Decke zu kacken. Ich schrubbe zehn Minuten länger und schleiche anschließend schuldbewusst dem Wasserbecken entgegen. Die Spüle ist so groß wie eine Badewanne, etwa fünfzig Näpfe schwimmen darin, etwa zu gleichen Teilen von Hunden und Katzen. Auch sie werden nur bei Bedarf gereinigt, aber auch sie werden gelegentlich mit dem Klo verwechselt. Hinter mir stapeln sich die Katzenklos, zwei Transportkörbe (in den zehn Minuten, in denen man ihren Käfig reinigt, wollen sich manche auch dort noch verewigen) und die Eimer des Grauens.
Im Nachhinein kann ich bestätigen, dass alles, was einen nicht umbringt, stärker macht. Vor drei Wochen im Topf vergessene Bohnensuppe entsorge ich ohne Brechreiz, und unsere Menschentoilette zu säubern ist auch nicht schlimmer als ein normaler Menschenabwasch. Auch kann ich dem Kater seine Medikamente verabreichen, ohne mich zu verletzen, wenn er sich mal wieder eine Erkältung bei seinen Streifzügen im Hof eingefangen hat. Polly, unserer jüngst verstorbenen, legte ich den Tropf. Was ist schon eine Spritze, wenn man Bisswunden und Geschwüre versorgt hat?
Für die Neue würde ich jederzeit das Gleiche tun, obwohl auch sie mit Sicherheit diverse Ehrenamtliche mit ihren Körperflüssigkeiten in den Wahnsinn getrieben hat. Aber wir werden sie Greta nennen. Strafe muss sein.
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