Das Klaus

Gesammelte Werke

16.03.2014

Prostitution: zur verqueren Moral von Verboten

Seit langem will ich etwas zu Prostitution schreiben. Immer hält mich davon ab, dass ich Überzeugungen zu Wirksamkeit von Maßnahmen und gegenwärtigem Ausmaß von Menschenhandel und Zwangsprostitution schlecht belegen kann. Ich habe da mal eine Studie gelesen und Statistiken gesehen, und finde die nicht wieder, oder ich schiebe vor mir her, Zahlen und wissenschaftliche Arbeiten zu beschaffen und zu recherchieren. Ich habe die Fakten nicht parat.
Aber hier geht es nicht um Fakten, hier geht es um Moral - das zeigt der Tonfall der Debatte immer wieder und spiegelt sich in Argumenten auf allen Seiten. Und wenn es um Moral geht, lässt sich mein Standpunkt meist zusammenfassen mit "Lasst die Leute doch!". Menschen mit Verboten an etwas zu hindern, heißt, ihnen Freiwilligkeit zu verwehren, ihnen eine Option zu nehmen. Das geschieht nicht immer aus guten Gründen. Sollte es aber. Prinzipiell gehen wir in meiner Wunschvorstellung davon aus, dass alles erlaubt ist, und verbieten und regulieren dann dort, wo es nötig ist, und zwar evidenzbasiert und nicht auf Grundlage davon, was sich richtig anfühlt und was nicht. So gibt es für viele Berufe Sicherheits- und Gesundheitsvorschriften. Einen ganzen Berufszweig zu verbieten geht eigentlich nur dort, wo die gehandelte Ware oder Dienstleistung an sich illegal ist: Drogenhandel oder Auftragsmord, beispielsweise. Da Sex an sich erlaubt ist, würde ein Prostitutionsverbot de fakto bedeuten, dass man ihm keinen Geldwert zuweisen darf.

Wie absurd das ist, illustriert eine Studie, die untersucht, welche Gründe Menschen zu Sex bewegen. Darunter sind nicht nur Lust und Liebe zu finden, sondern auch Langeweile, Selbstbestätigung, das Vergnügen des Partners und Manipulation. Nicht immer ist das eigene oder gemeinsame Vergnügen also ausschlaggebend, und Sexualität im Tausch anzubieten ist nicht allzu ungewöhnlich: für Status, Symphatie, eine tiefere Bindung oder eben auch Geld. Dabei schließen sich diese Gründe nicht gegenseitig aus: Sex, den ich aus Liebe habe, kann mir durchaus auch Lust bereiten, und Sex, der einem erhöhten Status dient, kann mit einer tiefen Verbindung einhergehen. Beweggründe für menschliches Handeln sind in aller Regel komplex, und die Beweggründe anderer in Frage zu stellen, wie es in der Prostitutionsdebatte regelmäßig passiert, greift tief in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen ein. Warum Menschen sich für Prostitution entscheiden, kann also Gegenstand der Debatte sein, aber niemals unterstellt werden.

Weil es leider immer noch nötig ist, das direkt zu sagen: in der Prostitutionsdebatte geht es nicht um Zwangsprostitution oder Menschenhandel. Beides ist illegal und soll es auch bleiben. Auch kann nicht behauptet werden, dass es an harten Strafen mangelt: hier kommen Zwangsarbeit, Menschenhandel, Nötigung, Freiheitsberaubung und Vergewaltigung zusammen: alles keine Kleinigkeiten. Man kann bessere Aufklärung, Beratungsstellen, intensivere Verfolgung und bessere personelle Ausstattung der ermittelnden Stellen fordern - stattdessen wird die Kriminalisierung der Prostitution insgesamt postuliert. Das ist ungefähr so, als wolle ich gegen Kinderarbeit in Fabriken vorgehen, indem ich Fabriken verbiete.
Ich halte die Problematik von Menschenhandel und Zwangsprostitution daher für vorgeschoben. Betroffene mögen mir verzeihen, dass ich hier über freiwillige Prostitution spreche.

Gegen diese wird angeführt, sie reduziere Menschen auf Lustobjekte, wäre unwürdig, widerlich und niemand würde sie wirklich freiwillig ausüben. Das wirft die Frage auf, was eigentlich "wirklich" freiwillig bedeutet. Natürlich dürfte der Anteil derer, die dieser Arbeit zur Selbstverwirklichung nachgehen, eher gering sein. Dass das niemandem Spaß machen kann, ist allerdings Blödsinn: Sexarbeit setzt Anbieter sexueller Dienstleistungen in eine sexuelle Machtposition. Finanziell messbar begehrt zu werden, kann Selbstwertgefühl und auch Lust steigern. Geld für etwas zu bekommen, das üblicherweise kostenlos gehandelt wird, ist auch Zeichen von Wertschätzung für die angebotene Leistung. Die geschäftliche Abwicklung kann auch Fokus eines Fetisch sein. Und wenn wir von Menschenwürde sprechen: Als degradierend kann es sowohl empfunden werden, jemandem zu Diensten zu sein, als auch, jemanden bezahlen zu müssen.

Problematisch wird all das eigentlich nur, wenn Not ins Spiel kommt. Wie nötig muss man das Geld, das man auf diese Weise verdient, haben, damit nicht mehr von Freiwilligkeit ausgegangen werden kann? Und man kann ja davon ausgehen, dass sich Menschen in aller Regel vorrangig des Geldes wegen prostituieren - sonst hätten sie ja schließlich unbezahlten Sex. Nun servieren Menschen aber auch des Geldes wegen Burger, tragen Zeitungen aus oder reinigen Hotelzimmer. Das macht diese Tätigkeiten nicht weniger freiwillig. Gastarbeiter, die für Hungerlöhne Spargel stechen, Dienstleister, die auf Schritt und Tritt von Arbeitgebern überwacht werden und Praktikanten, die für leere Versprechungen zukünftiger Jobs in umkämpften Branchen Arbeitsschutz und Arbeitszeiten ignorieren und ignorieren lassen sind genauso Opfer von Ausbeutung - niemand käme auf den Gedanken, darum Spargel zu verbieten. Armutsprostitution bekämpft man nicht, indem man Prostitution, sondern Armut bekämpft. Illegale Zuwanderung von Sexarbeitern ist deshalb so groß, weil den Betroffenen legale Zuwanderung (oder legale Arbeit) nicht möglich ist. Kaum jemand lässt sein Zuhause und seine Familie zurück, der es nicht nötig hätte. Diese Not muss man bekämpfen, nicht die Linderung, der Leute hinterherreisen.

Klar ist, dass Menschen verschieden sind. Während Prostitution für den einen sexuelle Befreiung bedeutet, wäre sie für den anderen traumatisierend, und für den nächsten eine unangenehme, unliebsame Pflicht. Zu Prostitution darf niemand gezwungen werden, nicht mit Gewalt und nicht durch finanzielle Not. Nur, dass das im Prinzip auch für Callcenterarbeit gilt. Zwangsarbeit ist verboten und zumindest in Theorie gibt es die freie Berufswahl. Dass die Sanktionsmöglichkeiten von Hartz-IV und das Konstrukt von "zumutbarer Arbeit" das in der Praxis unterwandern, ist ein erhebliches Problem. Niemand will, dass Prostitution "zumutbare Arbeit" wird. Wie für andere Berufe auch gilt hier: das muss einem schon liegen. Und das muss man auch können.

Es ist ja auch so ein Vorurteil, dass Prostitution eine Art Notlösung wäre, die jedem offen stünde. Halt: die jeder Frau offen stünde. Ich habe bis jetzt bewusst darauf verzichtet, geschlechtsspezifisch zu werden: ein überwiegender Teil der Prostituierten mag weiblich sein, aber erstens betrifft die Debatte auch die männliche Minderheit, und zweitens macht es keinen Unterschied für die theoretische Zulässigkeit als Beruf. Dass es in der Regel Männer sind, die die Dienstleistungen von Frauen in Anspruch nehmen, ist historisch gewachsen aus einer zutiefst sexistischen Gesellschaft, die lange Zeit Männern das Einkommen für derartige Ausgaben und Frauen kaum andere Wege der Selbständigkeit eingeräumt hat. Dass es vereinzelt Männer unter den Anbietern und Frauen unter den Kunden gibt, sollte als Beleg dafür ausreichen, dass es sich dabei nicht um eine zwangsläufige, natürliche Konstellation handelt.
Im öffentlichen Bewusstsein gilt Prostitution jedenfalls als Zeichen extremer finanzieller Not - oder unnatürlicher moralischer Verdorbenheit. Letzteres ist so diskriminierend und menschenverachtend, dass ich darauf gar nicht weiter eingehe. Ersteres wertet die Qualifikation, die der Beruf erfordert, aber ebenfalls ab. Der Markt für "Leute, die, weil sie das Geld so dringend brauchen, widerstrebend Dinge mit sich machen lassen" ist längst nicht so groß wie der für Menschen, die wissen, was sie tun und darin gut sind. Und vergessen wir nicht, dass der potentielle Kundenkreis sehr schnell schrumpft, je mehr der Anbieter vom gängigen Schönheitsideal abweicht.

Gute Sexarbeit verdient Respekt. Nicht, weil Sexarbeiter der Menschheit einen großen Dienst erweisen oder zwangsläufig Schreckliches ertragen. Sondern weil jeder Mensch einen respektvollen Umgang mit Entscheidungen verdient, die niemandem schaden.
Denn wem schadet es eigentlich, dass sexuelle Handlungen angeboten werden? Fragt man Alice Schwarzer, lautet die Antwort: den Frauen. Weil die Verfügbarkeit des Angebots suggeriert, dass Frauen eine Ware seien, die man kaufen könne. Dass sich Schwarzer beharrlich weigert, den Unterschied von Waren und Dienstleistungen zu verstehen, ist schmerzhaft. Ich kaufe ja auch nicht den Masseur, der meine Rückenschmerzen beseitigt, dabei ist der Effekt ein ähnlicher: ich erwarte physisches Wohlbefinden für mein Geld, will entspannt und wohlgelaunt das Etablissement verlassen, und erkaufe mir Zufriedenheit, selbst wenn keine medizinische Indikation vorliegt, die die Prozedur notwenig machen würde.

Ohnehin wird oft die Frage gestellt, ob Prostitution ein Beruf wie jeder andere sei. Aber was ist denn "jeder andere" Beruf? Und: natürlich ist Prostitution irgendwie anders. So, wie viele Berufe irgendwie anders sind. Es wird immer gern der Anschein erweckt, man könne Prostitution mit nichts vergleichen. Dabei kann man! Ist ganz leicht!
Ich bin zum Beispiel nicht der Erste, der auf die Idee gekommen ist, Prostituierte mit Soldaten zu vergleichen. Es gibt viele Menschen, die den Beruf und alle, die ihn ausüben, vehement ablehnen ("Soldaten sind Mörder"). Es ist unklar, ob er überhaupt gemacht werden muss, und Menschen, die ihn ergreifen, sehen sich einer Reihe Vorurteile ausgesetzt. Viele können es sich für sich selbst nicht vorstellen, und diejenigen, die es können, sind oft von romantisierten Darstellungen geprägt. Viele entscheiden sich vor allem der sicheren Existenz wegen dafür, oder aus anderen "schlechten" Gründen: Abenteuerlust, Heldenträume, Ziellosigkeit, Risikofreude. Nun kann man einlenken, dass Soldaten heutzutage nicht nur zum Töten ausgebildet werden. Ebenso geht es bei Prostitution aber nicht nur um Geschlechtsverkehr (Stichwort Soft Skills: Menschenkenntnis, Selbstvermarktung und vergessen wir nicht all die anderen Formen von Sexarbeit).
Trotzdem stellt sich erstaunlicherweise niemand, der diese Wahl selbst nie treffen würde, hin und erklärt, niemand könne freiwillig Soldat sein.

Wer jetzt auf die Idee kommt, ich wolle Sex mit Gewalt gleichsetzen: nehmen wir einmal Kunst. Verkauft ein Orchestermusiker seine Seele, weil er so spielen muss, wie es ihm Komponist und Dirigent vorgeben? Ist Musik nicht etwas, das vor allem mit Gefühl zu tun hat, eine Ausdrucksform für persönlichste Empfindungen? Lässt sich so etwas verkaufen, noch dazu, wo doch viele Menschen privat, unentgeltlich für- und miteinander singen und musizieren? Geht nicht der Zauber verloren, wenn man Fremde auf Zuruf zum eigenen Vergnügen performen lässt?

Was genau ist an Sex so anders, dass es so viel Unmut hervorruft, auch nur zu gestatten, dass Menschen ihn vermarkten?
Das Problem ist in der Sexualmoral zu finden. Der einzige Unterschied einer Prostituierten zu, sagen wir, einer Friseurin, ist die Art der Dienstleistung. Für jede andere Tätigkeit ist es legitim und wird auch so empfunden, Menschen zu bezahlen. Ich kann mir, sofern ich über die Mittel verfüge, die Wohnung putzen, das Fahrrad reparieren, den Hund Gassi führen und meinen Kindern Nachhilfe geben lassen. Aber auch, wenn es um reines Wohlbefinden geht, steht mir eine Vielzahl an Dienstleistern zur Auswahl, die sich gegen Geld meines körperlichen oder seelischen Wohlbefindens annehmen: Schauspieler, "Alternativmediziner", Musiker, spirituelle Berater, Masseure, sie alle dienen dazu, dass ich etwas empfinde, dass es mir gut geht. Und niemand nimmt es mir übel, wenn ich keinen Gedanken an ihren Spaß dabei verschwende. Vor einer Pediküre wasche ich mir vermutlich die Füße und pflege einen höflichen Umgang mit meinem Dienstleister, aber ob dieser daran Spaß hat oder nicht oder tiefe Befriedigung, ja persönliche Befreiung dabei empfindet, geht mich nichts an - ich zahle schließlich für mein eigenes Wohlergehen. Was also ist an Sex anders?

Hier kollidieren verschiedene Vorstellungen von Sex. Wer Jungfräulichkeit zu moralischer Reinheit stilisiert, Sex als Ausdrucksform von tiefer Zuneigung betrachtet, die es für besondere Menschen zu reservieren gilt oder Lust als Geschenk an die große Liebe (oder gar als notwendiges Übel zur Fortplanzung), wird mit Prostitution weder als Kunde noch als Anbieter etwas anfangen können. Wer Sex primär als physische Befriedigung eines Bedürfnisses sieht, hat mit einem Handel derselben üblicherweise weniger Schwierigkeiten - weder gegen Geld noch als sozialen Kitt. Es existieren mehrere, scheinbar widersprüchliche Narrative zu Sexarbeit, die verschiedenen Anschauungen und Erfahrungen geschuldet sind. Keine Seite profitiert davon, das Narrativ der anderen zu ignorieren. Prostitution kann Selbst- wie Fremdausbeutung sein, es kann genausogut eine Dienstleistung wie jede andere sein - je nachdem, wie das Empfinden der ausübenden Person dazu ist. Wir müssen zunächst akzeptieren, dass verschiedene Menschen verschiedene Realitäten erleben, und diese durch die Existenz anderer Erlebnisse nicht weniger real werden.

Dass eine Tätigkeit vielen Menschen, die sie ausüben, nicht gut täte, ist ein Werturteil über die freien Entscheidungen anderer und sehe ich damit als nicht zulässig an, danach Politik zu betreiben. Um grassierenden Problemen in der Prostitution zu begegnen, sind diese Werturteile nicht hilfreich. Ausbeutung, Not und schlechten Arbeitsbedingungen kann und muss man gegenübertreten, ohne das Stigma zu verschärfen. Die Kampagne Alice Schwarzers ist an dieser Stelle Teil des Problems.
Menschen, die zu gewalttätigen Partnern zurückkehren, wird diese Entscheidung, die für sie in der Regel nur Leid, finanzielle und emotionale Abhängigkeit und weitere Gewalt bedeutet, nicht von staatlicher Seite versagt. Ein solcher Vorschlag würde wegen seines unzulässigen Eingriffs in die Autonomie der betroffenen Menschen und der fremdbestimmten Zuschreibung, was gut und was schlecht für andere ist, sicher empört abgelehnt. Bei Prostitution hingegen ist die Zuschreibung der Opferrolle gang und gebe. Das muss aufhören.

Man muss sich bei politischen Forderungen immer fragen, was das Ziel sein soll, und ob die Forderung geeignet ist, dieses Ziel zu erreichen oder ihm zumindest näher zu kommen. Geht es um weniger Prostitution? Ein respektvolleres Frauenbild in der Gesellschaft? Abschaffung von Objektifizierung? Von sexueller Repression?

Was ich fordere, ist die vollständige Legalisierung von Prostitution, und die Regulierung derselben durch Maßnahmen, die geeignet sind, Arbeitsbedingungen und Sicherheit tatsächlich zu verbessern - damit kennen sich andere Menschen besser aus, und an dieser Stelle lohnt es, die Forderungen der Sexarbeiter selbst anzusehen. [An dieser Stelle mussten tote Links leider entfernt werden. Einen Überblick über die Interessen von Sexarbeitern kann man sich beim Berufsverband Sexarbeit oder dem Bündnis der Fachberatungsstellen für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter verschaffen] Darüber hinaus zeigt das Thema auch andere Problemfelder auf: in der Einwanderungs-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Dass die Fakten- und Studienlage so dürftig ist, ist ebenfalls ein Alarmsignal: ich wünsche mir mehr Untersuchungen und damit mehr Möglichkeiten, Wirksamkeit und Unwirksamkeit von Regulierungsmaßnahmen zu überprüfen.

Ich weise darauf hin, dass ich trotz der ungewöhnlichen Länge dieses Posts kaum an der Oberfläche kratzen konnte. Ich habe weder über die Situation von Freiern noch der von Förderern der Prostitution gesprochen, auch alle anderen Formen der Sexarbeit ausgeklammert, nicht über Pornografie, Jugendschutz, Objektifizierung und Sexismus geschrieben und ohnehin nur den moralischen Aspekt eines Totalverbotes angerissen. All das gilt allerdings nicht nur für die Ausübung, sondern auch für die Inanspruchnahme der betreffenen Dienstleistungen. Freierbestrafung betrachte ich daher als dasselbe in grün.
14.03.2014

Geschlechtergerechte Sprache

Sprache ist ein Medium und kann sowohl zur Diskriminierung als auch Inklusion verwendet werden. Sprachliche Konventionen machen außerdem Diskriminierungen und Privilegien in der Gesellschaft sichtbar. Da sich Sprache in der Regel nur langsam entwickelt, finden sich auch immer Hinweise auf historische Attitüden darin.

Von der Veränderlichkeit der Sprache

Wörter haben eine Bedeutung. Diese Bedeutung wird kollektiv durch ihre Verwendung definiert, unterliegt also einem Wandel, der selten von der kompletten sprechenden (und schreibenden) Bevölkerung auf einmal vollzogen wird. Vielmehr ist ein solcher Wandel etwas, das sich schrittweise zunächst in einzelnen Kreisen und Gruppen entwickelt, und sich dann im Rest der Bevölkerung etabliert - oder auch nicht. Die meisten Versuche, Sprache bewusst zu beeinflussen, sind fehlgeschlagen und untergegangen, weil sie sich nicht verbreitet haben. Andere sind in die Alltagssprache übergegangen, ohne dass die dahinterliegende Absicht überhaupt noch bekannt wäre. Und zu guter Letzt werden Begriffe entwendet, übernommen, gekapert und umgedeutet, Konnotationen verschwinden, schlagen ins Gegenteil um oder verfestigen sich. Nicht immer ist es möglich, den Status quo eines Begriffes klar einzufangen, da er von verschiedenen Leuten verschieden verwendet wird. Der Duden bemüht sich, ein klares Abbild der aktuell verwendeten Wörter zu schaffen, kann sich bei seiner Einschätzung aber sowohl irren als auch selbst Einfluss nehmen durch die Legitimation von Neologismen oder deren Nichtaufnahme.
Kurz: Sprache ist kompliziert. Sie wabert.

Alles ist erlaubt

Jedes Wort, aber auch jede grammatikalische Regel war irgendwann einmal falsch. Und zwar genau solange, bis so viele Menschen "falsch" gesprochen oder geschrieben haben, dass es schließlich richtig wurde. Jeder, der eine Sprache verwendet, zerrt an ihr und drückt ihr seine eigene Verwendung auf. Dialekte sind ein Beispiel dafür: nie käme ich auf die Idee, langweilick statt langweilich zu sagen, eine nicht unerhebliche Menge Menschen sieht das aber anders und sagt es einfach, ohne mich zu fragen. Mit der Zeit verändern sich Aussprache, aber auch Schreibweise. Aus itzt wurde jetzt. Aus E-Mail wurde Email. Aus Delphin Delfin. Und immer gab und gibt es Menschen, die sich einfach nicht an die Regeln halten. Ich kann mir nicht abgewöhnen, kucken statt gucken zu schreiben, nichtssagend statt nichts sagend. Das ist noch harmlos gegen diejenigen, die mit Apostrophen um sich schmeißen, als wären sie Falschgeld, das schnell unters Volk gebracht werden müsse. Aber die dürfen das. Mit Verlassen der Schule gibt es keine Bewertung der Rechtschreibung und des Stils mehr. Erlaubt ist, was gefällt - es mag wenig professionell erscheinen, aber wenn die Korrektur Willi´s Bahnhof's Markts den Umsatz steigern würde, wäre sie längst erfolgt. Willi darf das. Genauso darf ich mich darüber lustig machen, was ich hiermit getan haben möchte. Haha!

Wörter bedeuten Dinge

Im wissenschaftlichen Betrieb, vor allem in den Geisteswissenschaften, ist es Usus, zu Beginn einer Arbeit zunächst sämtliche verwendeten Fachbegriffe zu definieren. Das ist oft nötig, da gebräuchliche Begriffe wie "System" oder "Information" je nach Kontext sehr allgemeine oder sehr präzise Dinge beschreiben können. Oft muss zum fehlerfreien Verständnis erläutert werden, auf welche Theorie, welches Modell, welche Literatur man sich bezieht, oder selbst eine Definition vornehmen. Im Alltag bleibt es nötig, sich auf die übliche Bedeutung zu beschränken oder sich umständlicher auszudrücken. Trotzdem entstehen viele Missverständnisse aus unterschiedlich verstandenen Begriffen, da nicht immer Einigkeit darüber besteht, was die übliche Bedeutung denn nun genau ist. Kommunikation kann überhaupt nur erfolgen, wenn wir Sprache gemeinsam benutzen, in Wechselwirkung von Sender und Empfänger, was wiederum erfordert, eine gemeinsam verstandene Ausgangsbasis zur Verfügung zu haben. Sich über Konventionen hinwegzusetzen, um Sprache zu verändern, kann also nur dann funktionieren, wenn man sich erklärt.

Das generische Maskulinum

Nun aber endlich zur Geschlechtergerechtigkeit: die deutsche Sprache ist durchsetzt von sprachlich manifestierter Ungleichheit. Nicht nur haben sämtliche Substantive im Deutschen ein Geschlecht, auch gibt es keine geschlechtsneutrale Einzahl, um Personen zu bezeichnen, keine Möglichkeit, Frauen und Männer gleichermaßen anzusprechen, wenn man Praktikanten sucht oder adressieren möchte. "Wir suchen einen Praktikanten" macht aus dem Gesuchten einen Mann, und "Liebe Praktikanten" spricht nur die Männer an, zumindest formal. De fakto sind, und das schon lange, Frauen in dieser Form grundsätzlich mitgemeint, der unbekannte Praktikant könnte ebenso eine Praktikantin sein und die Praktikantinnen werden kaum annehmen, das von ihnen nicht die Rede sei. Aber: es ist die männliche Form, die möglicherweise mitgemeinte Frauen unsichtbar macht. Wir haben hier ein Problem.

Markierte und unmarkierte Begriffe

Praktikantin ist ein markierter Begriff: er bezeichnet ganz spezifisch und ausschließlich eine Frau. Praktikant hingegen kann sowohl markiert ("Der Praktikant öffnete mir die Tür") als auch unmarkiert ("Das ist eine Aufgabe für einen Praktikanten") sein, wenn das Geschlecht der betreffenden Person nicht bekannt ist. Ein ähnliches Phänomen kann man anhand von Tag und Nacht beschreiben. Für sich genommen bezeichnen sie die Zeitspanne zwischen Sonnenauf- und Untergang bzw. umgekehrt, ein Tag kann jedoch außerdem beide auf einmal meinen, nämlich 24 Stunden. Die Bedeutung erschließt sich dann erst aus dem Kontext: "Ich habe den ganzen Tag Computer gespielt" lässt Raum für eine Nacht Schlaf, "In zwei Tagen muss ich die Hausarbeit abgeben" schließt zwei Nächte ein. Eine fünftägige Reise beinhaltet hingegen nur vier Nächte, und in Hotels werden gar die Tage in die Nächte eingeschlossen, wenn man ein Zimmer für drei Nächte bucht.

Das generische Femininum

Das Maskulinum ist also die unmarkierte Form, die je nach Kontext Frauen einschließen kann oder nicht. Um der daraus resultierenden mangelnden Sichtbarkeit von Frauen in der Sprache entgegenzuwirken, gibt es nun Bemühungen, das Femininum unmarkiert zu verwenden. Die Universität Leipzig hat das zum Beispiel getan - in jenen Fällen, in denen keine bestimmte Person, sondern eine Rolle bezeichnet wird, deren innehabende Person nicht bekannt ist und somit auch nicht ihr Geschlecht, verwendet sie die weibliche Form und meint die Männer damit mit. Die Presse reagierte darauf zunächst mit Überschriften wie "Herr Professorin" - eine Formulierung, die auf diese Weise natürlich nie zustandekäme, da das Geschlecht eines Herren ja durchaus bekannt ist und damit gar kein unmarkierter Begriff vonnöten ist. Auf Twitter gibt es das Projekt der "In-Woche", während der Teilnehmer für eine Woche das Femininum unmarkiert verwenden, und auch die Uni Potsdam benutzt in ihrer Geschäftsordnung das generische Femininum. Dessen Verwendung zeigt den sprachlich privilegierten Männern, wie es so ist, nur mitgemeint zu sein, und viele entrüstete Reaktionen ("Ich bin aber keine Bürgerin und will auch nicht so genannt werden und fühle mich davon nicht angesprochen") bestätigen nur die sprachliche Ungerechtigkeit, an die sich Frauen längst gewöhnt haben.

Andere Versuche geschlechtergerechter Sprache

Das generische Femininum ist natürlich ein radikales Konzept, das die Diskriminierung umkehrt und insofern als Brückentechnologie, politisches Statement und sprachfeministische Kampagne zu verstehen. Seine Etablierung würde nicht zu mehr Gerechtigkeit und Gleichheit führen, sondern illustriert nur das Problem. Ältere und bekanntere Maßnahmen sind die Beidnennung (Praktikantinnen und Praktikanten), das Binnen-I (PraktikantInnen), diverse Striche (Praktikant-in, Praktikant/in, Praktikant_in) und das Sternchen (Praktikant*in), das außerdem als Trans-Sternchen bekannt ist und Transsexuelle, Intersexuelle sowie Menschen nicht-binärer Geschlechtsidentität einschließt. Diesen Formen ist gemein, dass sie sich nicht mitsprechen lassen, also ausschließlich schriftlich existieren, und allenfalls durch bedeutungsschwangere Pausen oder ausgesprochene Interpunktion sprachlich zum Ausdruck gebracht werden können.

Pragmatische Bedenken

Nun kann man all diese Varianten verwenden, sich darüber streiten, welche gerechter ist und ob sie überhaupt nötig sind, Fakt bleibt, dass Sprache von allen gemacht wird, die sie verwenden, und sich die Mehrheit durchsetzt. Die Mehrheit sind in diesem Zusammenhang zwei verschiedene Mehrheiten: einerseits das, was "auf der Straße" gesprochen wird (darunter zählen übrigens auch Unterhaltungen in geschlossenen Räumen, freier Natur oder auf Bürgersteigen und Fußgängerzonen), und andererseits die förmliche Sprache in Beruf und Behörden - das, was in offiziellen Schriftstücken steht, was man in einer Bewerbung formulieren würde, in einer Rede oder einem Meeting. Die Beidnennung und das Binnen-I sind in der förmlichen Sprache bereits gut angekommen, privat begegnen sie einem aber selten. Das generische Femininum ist weiterhin eher unbekannt und wird nur in höchst ausgesuchten Kreisen verwendet, wo es allenfalls ein kleines Gegengewicht schafft.

Das Privileg des Maskulinum

Was das Gendern "auf der Straße" so unbeliebt macht, ist das eigentliche Privileg, das hinter dem generischen Maskulinum steht: es ist die Grundform, der Stamm eines Wortes. Jede Bemühung, geschlechtergerecht zu kommunizieren, erzeugt mehr Silben, mehr Buchstaben: also das, was die Alltagssprache zugunsten von "ähm" und "öh" und "weißte" und "Hammer, Alter!" wegrationalisiert. Umgangssprache schleift Endungen und Silben rund, verkürzt Begriffe, wo sie es kann, um dann möglichst bedeutungsarme Laute in Denkpausen einzuschieben. Das maskuline Privileg ist es, der Default-Begriff zu sein, die Kurzform, die Grundform, während alles Weibliche in einer längeren, speziellen Sonderform auf dem zweiten Platz landet. Was im Übrigen rein biologisch andersherum ist: die Grundform des Lebens ist weiblich, und erst mit der "Erfindung" der Geschlechter wurde eine zweite, abgewandelte Form, die männliche, eingeführt. Dieses Prinzip zieht sich bis zum Menschen durch: ein Mensch, der kein Testosteron erhält, entwickelt sich phänotypisch zur Frau, unabhängig von den Chromosomen, die er besitzt. Gesellschaftlich werden Frauen aber immer noch als Sonderform des Männlichen angesehen - ein Strichmännchen ist ein Mann, bis man lange Haare dazuzeichnet oder Brüste, antropomorphe Spielfiguren sind männlich, solange sie nicht durch Kleider, pinke Farbe oder Lippenstift und Wimpern als weiblich gekennzeichnet werden und zuguterletzt ist jeder Wortstamm einer Personenbezeichnung zugleich die männliche Form, die mit einem -in versehen werden muss, um sie weiblich zu machen.

Gendern auf englisch

Was die englische Sprache an dieser Stelle tut ist perfide: sie ermöglicht ein Gendern gar nicht erst. "The intern opened the door" ist ein unübersetzbares Mysterium, das erst Auflösung erhält, wenn der Praktikant wichtig genug für einen zweiten Satz ist, indem aus der Rollenbezeichnung dann ein "he" oder "she" werden könnte. Und selbst dann gibt es für einen Praktikanten, dessen Geschlecht man nicht kennt, noch einen netten kleinen Trick: das singuläre they. Einst üblich, ist es in der Versenkung versunken und in Vergessenheit geraten, erlebt aber eine Renaissance, die durchaus erfolgversprechend ist - im Gegensatz zu vielen, nur in kleinsten Kreisen akzeptierten Versuchen, neue Pronomen zu etablieren - Versuche, wie es sie auch hierzulande gibt und von denen die Wenigsten auch nur gehört haben.

Ein versuchtes Fazit

Ich mag meine Sprache, und der deutsche Hang allem immer ein Geschlecht zuzuweisen ist durch Wünschen allein nicht zu entfernen. Auch kann ich kaum als neutral gelten, da das generische Maskulinum mir immer ermöglicht hat, meine fehlende Geschlechtsidentität hinter scheinbar unmarkierten Begriffen zu verstecken. Aber geht es im Feminismus nicht darum, den Standard, den Default, für Frauen zu öffnen? Als Frauen Wahlrecht gefordert haben, wurden da Wahlkabinen für Frauen gebaut, und ein Frauenparlament? Ging es nicht immer darum, Privilegien abzubauen, indem das Privileg für alle geöffnet wurde und damit kein Privileg mehr war? Statt sich mit einem speziellen Extra-Wort nur für Frauen zufriedenzugeben wie mit einem Trostpreis oder einer Teilnehmerurkunde, können wir das -in nicht einfach ganz abschaffen?
Ich bin nicht so naiv, wie das klingt; ich weiß, das es nie so einfach geht, und dass die Unsichtbarkeit von Frauen aus der Sprache so nicht verschwinden wird. Man wird sich immer noch zuerst einen jungen Mann vorstellen, wenn man Praktikant sagt. Aber je öfter man überrascht wird, desto eher verschwindet die maskuline Konnotation der Grundform. Wäre das nicht schön? Und ja: hätten wir Frauenwahlkabinen und Frauenparlamente eröffnet, der Anteil weiblicher Politiker wäre nicht bis heute so erschreckend niedrig. Der Sprache wird es kaum anders gehen. (An dieser Stelle mein Lieblingssprachwitz: Sitzen zwei Homosexuelle im Flugzeug. Sagt die eine zur anderen: "Bestimmt haben sich jetzt alle zwei Schwule vorgestellt." Antwortet die Copilotin: "Und sicher halten sie uns für Passagiere.")

Für mich bedeutet Feminismus, Frauen und Männer nicht zu trennen, sondern zu Menschen zusammenzufassen. Und das Vorrecht auf die sprachliche Grundform nicht den Männern zu überlassen und mit einem extra, extra für uns gemachten -in zurückzubleiben.

Anmerkungen: ich spreche im letzten Satz vorübergehend als Frau. Ich bitte alle Frauen dieser Welt um Verzeihung.
Dieser Text soll generisches Femininum, Beidnennung, Binnen-I, Sternchen und alle anderen Bemühungen um geschlechtergerechte Sprache nicht abwerten. Ich sympathisiere. Nicht hauen.
10.02.2014

Amt

Oh Amt! In deinen Wartesälen
hört man schwere Mühlen mahlen,
spürt, wie in das Mahlwerk quälen
sich der Arbeitslosen Scharen.

Hier wird Enttäuschung produziert!
Hier kommen arme Hoffnungsvolle,
geraten in die Mühlensteine
und werden mit granitner Rolle
zunächst entblößt, und dann auf kleine
Häuflein Elend reduziert.

Oh Amt! Nun musst du Unkraut jäten.
Arbeit wächst ja nicht auf Bäumen -
nur in feinen grauen Beeten
aus gemahlnen
Träumen
11.11.2013

Lieber Franz Josef Wagner - Eine Reaktion auf Franz Josef Wagners offenen Brief an Edward Snowden

Eigentlich ist dieser Schund nicht wert, überhaupt noch mehr Beachtung zu finden [Link zur BILD entfernt, aber keine Sorge, der Beitrag wird im Folgenden vollständig zitiert]. Antworten darauf gab es bereits, kurzzeitig auch einen Hashtag - wir haben einmal alle sehr gelacht, also warum ich jetzt auch noch, noch dazu Tage später?

Ganz einfach - wo sonst bekommt man einmal eine so schöne Gelegenheit, das Rhetorische Quartett (Disclaimer: Eigenwerbung) aus der Tasche zu ziehen und mal gründlich Fehlschlüsse zu analysieren? Also, ran an den Speck.

Der Beitrag besteht aus 12 Sätzen und einigen Aufzählungskonstrukten, die keine Sätze sind. Der Autor hat eine Facebook-Fanpage, einen Wikipedia-Eintrag und offensichtlich einen Dachschaden. Seine Argumentation ist wirr, sprunghaft und so naiv, dass das doch irgendwie Satire sein muss. Dass sie es nicht ist, ist erschreckend - mit Journalismus hat der Beitrag nichts mehr gemein und erinnert allenfalls an einen konfusen, längst in die Unsichtbarkeit downgevoteten Spontanpost einer unmoderierten Kommentarspalte.

Lieber Edward Snowden,

Darf ich Ihnen erklären, warum Sie kein Asyl in Deutschland bekommen.

DeutungshoheitBrunnen vergiftenGrammatikalisch ist das eine Frage, wenn auch eine rhetorische, da Wagner fortfährt, seine "Erklärung" zu unterbreiten, ob er nun Erlaubnis dazu erhält oder nicht. Inhaltlich ist dieser Satz vor allem bevormundend. Wenn Franz Josef Wagner ernsthaft glaubt, Edward Snowden müsse sich von ihm irgendetwas erklären lassen, ist das an sich schon lustig. Dass Wagner an dieser Entscheidung selbst nicht beteiligt war, also gar nicht in einer Position ist, sie zu begründen, wiegt schon schwerer.

Dass Wagner überhaupt in einem offenen Brief zu einer Erklärung ansetzt, erweckt den Anschein, Snowden selbst hätte diese Frage gestellt oder wäre an ihrer Beantwortung durch den Erklärenden interessiert. Die Absichtserklärung, hier jemandem etwas beizubringen, stellt den Autoren als Sachkundigen dar. Hier wird bereits zu Beginn der Argumentation ein Rahmen um diese gezogen, den Wagner selbst festlegt.

Korrekt müsste dieser Satz lauten: "Ich erkläre Ihnen jetzt, welche möglichen Gründe ich dafür sehe, dass Sie in Deutschland kein Asyl erhalten." Es handelt sich hier also nur um Spekulation. Dass diese auch sonst nicht gerade auf festen Füßen steht, sehen wir im Folgenden.

Sie bekommen kein Asyl, weil wir Amerika sind.

Chewbacca-VerteidigungKein wahrer SchotteDieser Satz hat keinerlei Aussagekraft, weil weder "wir" noch "Amerika" konkret definiert werden. Nehmen wir der Fairness halber einmal an, Wagner verwende "Amerika" hier umgangssprachlich als Synonym für die USA (ich entschuldige mich hiermit stellvertretend für Wagner bei Kanada, Süd- und Mittelamerika, sowie beim ganzen Kontinent, der sich diese Selbstzuschreibung durch Boulevardjournalisten schließlich nicht ausgesucht hat.)

Weiterhin ist es für die Analyse der Aussage nötig, "wir" zu interpretieren. Ein Bestandteil des wir ist durch die Person Wagners selbst gegeben, der ja aus Ich-Perspektive schreibt. Nun stellt sich die Frage, welche Gruppe oder Gemeinschaft er in sein wir mit einschließen möchte. Aus vergangenen Schlagzeilen der BILD, für die Wagner schreibt, lässt sich absehen, dass "wir" in diesem Medium entweder (seltener) für die BILD-Redaktion oder aber (meistens) für die deutsche Bevölkerung steht.

(Eine kurze Google-Suche zu "Bildzeitung wir" ergab neben "Wir sind Papst" auch "Der irre Deutsch-Libanese, der einen Supermarkt anzündete - Warum lassen wir uns von so einem terrorisieren?" - der erste Satz des entsprechenden Artikels lautet: "Dieser Mann empört ganz Deutschland". Besser kann man das meiner Meinung nach gar nicht illustrieren).

LügeUm es kurz zu machen: wir sind nicht Amerika. Im Kontext gesehen kann hier angenommen werden, dass auch "sein" nicht gleich "sein" bedeuten soll, sondern politische Nähe meint, also Deutschland US-Amerikanische Interessen vertritt.

Dieser Satz könnte also vielleicht heißen: "Sie haben meiner Meinung nach kein Asyl in Deutschland erhalten, weil Deutschland keine von den USA Verfolgten aufnimmt, da dies den internationalen Beziehungen schaden würde." In dieser Fassung ist das gar nicht so weit hergeholt. Wagners weitere Begründung lässt diese Interpretation jedoch unwahrscheinlich erscheinen.

Wir sind es, seit Amerika uns vor den Nazis befreit hat.

DeutungshoheitEmotionale ErpressungZumindest jetzt ist das "wir" einigermaßen geklärt - die USA waren tatsächlich an der Befreiung Deutschlands beteiligt, auch wenn "Amerika hat uns von den Nazis befreit" eine extreme Vereinfachung darstellt, die zudem die anderen Alliierten sowie den Rest der am Krieg beteiligten Staaten und Territorien komplett ignoriert (der Begriff "Weltkrieg" wäre unzutreffend, hätte es sich nur um USA und Deutschland gehandelt).

Nun ist Deutschland allerdings schon eine Weile ein souveräner Staat. Eine vergangene Befreiung bedeutet nicht die Aufgabe politischer Unabhängigkeit, zumindest nicht mehr seit dem Ende der Besatzung. Auch Dankbarkeit sollte für eine moralische Angelegenheit - und Asyl ist immer eine moralische Frage - keine Rolle spielen. Recht und Unrecht heben sich nicht gegenseitig auf, so wie gute Taten schlechte nicht weniger schlecht machen.

[In den Kommentaren zur ursprünglichen Veröffentlichung dieses Textes fanden sich darüber hinaus Hinweise darauf, dass die Formulierung die Deutung zulässt, sowohl Amerika als auch die Nazis haben "uns" befreien wollen, nur sei Amerika eben schneller gewesen. Außerdem kann nicht die Rede davon sein, "wir" seien befreit worden - "wir" waren die Nazis, befreit wurden all diejenigen, die von ihnen - "uns" - unterdrückt und verfolgt wurden.]

Ja, vielleicht sind Sie der Gandhi des Internet, der Lech Walesa des Netzes.

Hinkender VergleichStrohmann Es erschließt sich mir nicht, was Snowden mit Ghandi und Lech Walesa oder auch nur diese beiden miteinander zu tun haben.

Das "Ja, vielleicht" am Anfang dieses Satzes lässt ihn wie ein Zitat erscheinen, dem Wagner die Möglichkeit einräumt, wahr zu sein. Das wirft die Frage auf, woher der Vergleich denn ursprünglich kommt - wer sagt das; wem stimmt Wagner hier vielleicht zu?

Die Formulierung legt nahe, dass es sich hier um ein Zugeständnis an Snowden, seinen Verdienst und seine Absichten handeln soll. Gleichzeitig ist aufgrund des Satzbaus ein "aber" im nächsten Satz bereits programmiert. Wagner ist hier sogar sehr geschickt: er erkennt eine Sichtweise als valide oder zumindest möglich an und nimmt so Andersdenkenden den Wind aus den Segeln. Gleichzeitig stellt er diesen doch recht integralen Punkt als nicht relevant dar.

Warum, sehen wir im nächsten Satz:

Aber ich liebe Amerika.

InsignifikanzIgnoranzargumentHier findet sich das Hauptproblem des ganzen Beitrags - Deutschland soll einem politisch Verfolgten kein Asyl gewähren, weil Franz Josef Wagner Amerika liebt - das ist nicht nur hanebüchen, das zeugt auch von gravierendem Unvermögen, die eigene Wichtigkeit realistisch einzuschätzen.

Wagner mag seinen kleinen Beitrag zu Stammtischgesprächen der BILD-Leserschaft beitragen, seine Liebe zu "Amerika" kann in Asylverfahren jedoch getrost vernachlässigt werden. Ich würde Snowden schon allein daher gerne in Deutschland sehen, um mir Wagner vorzustellen, der entgeistert die Nachricht erhält und es nicht fassen kann: "Aber ... aber ich liebe Amerika!"

 

Moralischer PragmatismusGanz egal, wie man zur NSA, zu Überwachung und zum Veröffentlichen von geheimen Dokumenten steht - die persönliche Zuneigung eines Kolumnisten zu einem Kontinent hat in dieser Angelegenheit keinen Informationsgehalt. Wagner erklärt Snowden hier nicht, warum dieser in Deutschland kein Asyl bekommt. Er erklärt, warum er selbst ihm keines gewähren würde, obwohl er ihn mit diversen Friedensnobelpreisträgern vergleicht.

Die Musicals.

Elvis.

Miami, New York.

ThemenwechselVerallgemeinerung Hier nimmt Wagner Bezug auf das, was er an Amerika so liebt. Festzuhalten ist eigentlich nur, dass nichts davon auch nur im Geringsten mit Edward Snowden zu tun hat, und diese Auswahl für einen gesamten Staatenbund auch eher dürftig ist.

So werden hier zwei Städte genannt, die stellvertretend für die gesamten USA herhalten müssen. Auch Elvis und Musicals sind nicht gerade repräsentativ für eine junge, doch recht vielschichtige Kultur.

Ich entscheide mich immer für Amerika. Amerika war meine Heimat, mein Dach.

SuggestionFallbeispiel Wagner scheint auf irgendeiner Ebene schon bewusst zu sein, dass er keine Aussage über die Motivation hinter der Enscheidung zum Asyl Snowdens treffen kann, und beruft sich auf den einzigen Menschen, dessen Beweggründe er genau kennt: sich selbst. Dass er sich - offenbar egal in welcher Frage - immer für Amerika entscheiden wird, kann man konsequent nennen oder undifferenziert.

Dass ihm Amerika eine Heimat, ein Dach war, sei ihm unbenommen, auch wenn sein Wikipedia-Eintrag keinen längeren dortigen Aufenthalt erwähnt. Hier wird ein Bild von den USA gezeichnet, das kaum als allgemeingültig für "uns" bezeichnet werden kann.

Amerika ist mir lieber als Putin.

Missgunst Ich übersetze: "Die USA sind mir lieber als Russland." Das ist besonders daher interessant, da "wir" ja "Amerika" "sind", seit "Amerika" "uns" von den Nazis befreit hat - nur dass eben auch Russland ganz maßgeblich und unter weit größeren Verlusten an dieser Befreiung beteiligt war und daher ähnlichen Anspruch auf bedingungslose Liebe haben sollte. Aber möglicherweise sind die Musicals dort einfach nicht so schön, und ein Miami gibt es in Russland auch nicht.
Umdeutung

Armer Mensch im Niemandsland.


Zunächst nahm ich an, dass sich das auf Putin beziehen müsse, wahrscheinlicher ist jedoch, dass damit Snowden selbst gemeint ist. Wagner projiziert hier seine eigenen Gefühle auf Snowden, der ihm augenscheinlich leid tut - wenn auch nicht leid genug, um Musicals und Elvis zu verraten. Moskau als Millionenmetropole als "Niemandsland" zu bezeichen, ist allerdings auch eher gewagt.

Ich hoffe, dass Sie jemand da rausholt. Die UNO, die Menschenrechtsorganisationen.

Für Amerika ist Snowden ein Verräter, für uns ist er ein Held.

Wagner verstrickt sich hier in Widersprüche: eben noch waren "wir" Amerika, jetzt ist Snowden aber für "uns" ein Held, für Amerika jedoch ein Verräter.

Wie schön wäre es, wenn der Whistleblower glücklich in einem Bauernhaus lebt mit einer Freundin, die vielleicht schwanger wird. Und sie ein Kätzchen haben und alles gut wird.

Wie schön wäre es, wenn der Kolumnist den Konjunktiv beherrschte oder beherrschen würde, noch dazu, wo er sein Geld doch mit dem Schreiben verdient.

Auch wenn es naheliegt, handelt es sich hierbei übrigens keinesfalls um Wuschdenken, jedenfalls nicht um Wunschdenken als Trugschluss. Das hätte eher so ausgesehen: "Bestimmt holt jemand Sie da raus, so dass Sie glücklich in einem Bauernhaus leben können mit einer Freundin, die vielleicht usw." Wagner unterstellt seinem Wunsch jedoch keine Erfüllung, und so habe ich an diesem Teil tatsächlich nichts weiter auszusetzen. Dass Wagners heteronormative vielleicht schwangere Bauernkätzchenfantasie möglicherweise nicht Snowdens eigener Vorstellung von Glück entspricht, ist schließlich unerheblich.

Herzlichst,

Ihr F. J. Wagner

Der Ehrlichkeit halber sei hier noch erwähnt, dass ich selbst zu einigen Argumentationstechniken gegriffen habe, die nicht besonders fair oder aussagekräftig sind.

SpottMetaStrohmannGegenargumentIn erster Linie sind die meisten meiner Entgegnungen von Hohn und Spott geprägt. Ich stelle den Autor in lächerlicher Weise dar, überspitze seine Formulierungen dort, wo das noch möglich ist, und bereite seinen Beitrag zur Belustigung meiner Leser auf.

Da nicht alle Sätze überhaupt Argumente sind, entkräfte ich diese selten an der Wurzel, sondern kritisiere ihre Form, ihren Stil und ihre Wortwahl.

Gelegentlich verstehe ich Wagner absichtlich zunächst falsch, um dann diese konstruierte Aussage ins Lächerliche zu ziehen.

Welchen Standpunkt Wagner auch immer zu vermitteln versucht, ist dieser durch diese Kritik natürlich nicht widerlegt.

 

Das hat mehr Spaß gemacht, als es sollte. In diesem Sinne: Vielen Dank, Franz Josef Wagner.

Herzlichst,
Ihr Klaus
10.09.2013

Warum Überwachung nicht nur unserer Freiheit, sondern auch Sicherheit schadet

Auf der Freiheit statt Angst waren viele Schilder zu sehen, die sich mit Freiheit und Sicherheit beschäftigten, allen voran das bekannte "Wer Freiheit für Sicherheit aufgibt, verdient weder Freiheit noch Sicherheit" in verschiedenen Variationen. Worüber aber quasi nie gesprochen wird, ist, dass Sicherheit für den Obdachlosen auf der U-Bahn-Bank oder den vage arabisch aussehenden Jogger oder den Behinderten viel wichtiger ist als für den erfolgreichen Mitteleuropäer, der Angst vor Terror oder vage arabisch aussehenden Joggern oder Obdachlosen auf U-Bahn-Bänken hat. Natürlich kann man Angst nicht pauschal nach Zahlen beurteilen, aber die eine Bedrohung ist greifbar, konkret, alltäglich und real - die andere nicht. Wer diese alltägliche Gefahr nicht kennt, kommt leicht auf die Idee, dass im großen und ganzen Sicherheit, Ordnung, Wohlstand herrschen, die "von außen" bedroht sind. Stattdessen ist es mit der Sicherheit wie mit der Freiheit: sie ist immer auch die Sicherheit der Anderen.
An sich sind Sicherheit und Freiheit vom Grundprinzip her also gar nicht groß gegensätzliche Begriffe. Sicherheit dient dazu, uns zu befähigen und zu ermutigen, uns frei zu bewegen - wenn ich bedroht bin oder mich bedroht fühle, kann ich nicht ungezwungen handeln, mich nicht ungezwungen äußern. Auf diesem Sicherheitsverständnis fußen Rechte wie Meinungsfreiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, Privatsphäre, Briefgeheimnis etc., und diese Sicherheit wird durch ausufernde Überwachungsgesetze verletzt. Denn mit staatlicher Willkür und verdachtlosen Grundrechteingriffen geht nicht nur meine Freiheit verloren, sondern ich fühle mich auch nicht mehr sicher.

Noch einmal zur gefühlten Angst: nun kann man argumentieren, dass die Menschen, die eine herumliegende Plastiktüte der Polizei melden, weil sie einen Sprengsatz befürchten, durch ihre Furcht ebenso eingeschränkt werden wie diejenigen, deren Ängste auf Fakten, Erfahrungen und realen Statistiken beruhen. Das trifft aber auch auf Menschen mit generalisierten Angststörungen, Panikattacken oder Phobien zu. Es ist nicht Aufgabe des Staates, uns vor unseren Befürchtungen zu schützen. Es ist Aufgabe des Staates, uns vor gesamtgesellschaftlichen und realen Bedrohungen auf staatlicher und gesellschaftlicher Ebene zu beschützen. Das sind zum Beispiel Naturkatastrophen (sofern man sich davor schützen kann: Frühwarnsysteme, Evakuierungspläne und Katastrophenhilfe sind entsprechende staatliche Aufgaben), Krisen (Hunger, Krieg, wirtschaftlicher Zusammenbruch) oder Kriminalität (so ziemlich jede nicht-natürliche Bedrohung ist Kriminalität in irgendeiner Form - auch Terror ist ja kriminell).
Für empfundene, überproportionale, spezifische Ängste sind aber Therapeuten zuständig - nicht die Politik.

Worauf ich hinaus will: Es wird immer wieder argumentiert, Überwachung solle zu unserer Sicherheit beitragen. Das entkräftet man nicht, indem man Terror verneint, verharmlost oder von Freiheit redet - die Gegenüberstellung von Freiheit und Sicherheit selbst ist schon Bestandteil des Arguments. Wenn wir nicht mehr von Freiheit statt Sicherheit, sondern von Sicherheit durch Freiheit sprechen, wäre schon viel gewonnen.
28.08.2013

Selbstlügen der Piratenpartei: Der Flausch als destruktive Kraft - ein Plädoyer

Dieser Artikel ist im generischen Maskulinum verfasst. Männliche Personalpronomen und Personenbezeichnungen erlauben keinen Rückschluss auf das Geschlecht.

Ausnahmsweise ohne konkreten, aktuellen Anlass möchte ich, nachdem ich bereits ausführlich über Mailinglisten hergezogen bin, noch auf einen weiteren Schwachpunkt in unserer Diskussionskultur zu sprechen kommen: den Flausch.
Flausch ist ja in erster Linie etwas Positives und ruft eher angenehme Vorstellungen hervor: weich, fluffig, Katzenbabies. Im Piratenkontext steht er für Nettigkeit, Freundlichkeit, Lächeln und Katzenbabies. Dass so etwas wie Flauschkritik überhaupt geäußert wird und schon die alleinige Nennung des Wortes Augen verdreht, scheint also zunächst unverständlich. Vorweg daher eine kurze Klarstellung: Ich schätze respektvollen Umgang miteinander. Gute Arbeit sollte mehr gelobt werden. Freundlichkeit verbessert unsere Zusammenarbeit. Katzenbabies sind süß.
Übrig bleiben zwei - augenscheinlich widersprüchliche - Feststellungen, die vielleicht zeigen können, dass es eben doch nicht so einfach ist.

Wir sind nicht nett genug

Dass wir eine empörungsfreudige Streitkultur haben, ist bekannt. Ich halte Empörung ja schon lange für das Nutzloseste aller Gefühle: es handelt sich um einen unreflektierten, spontanen moralischen Aufschrei. Das ist etwas, was immer auch Wut beinhaltet, und Wut, die herausgelassen wird, ist Agression. Empörung ist also immer auch ein Angriff. Und mit spontanen Angriffen ist es so eine Sache - wenn man nicht anhält, um zu überlegen, ob man die Richtigen trifft oder der Angriff zielführend ist, vertieft man damit nur Gräben. Die moralische Natur der Empörung verstärkt dieses Problem. Wer sich auf der Seite der Guten wähnt, dem fällt es leicht, sein eigenes Verhalten vor sich selbst und anderen zu rechtfertigen. Für gute Zwecke werden die meisten Fehler begangen. Für einen guten Zweck zu streiten, reicht allein nicht.
Nun ist das mit Gefühlen so eine Sache: man hat sie, ob sie nun zielführend oder angebracht oder gern gesehen sind oder nicht. Ich möchte aber dringend für ein Kanalisieren, ein Innehalten plädieren: lohnt es, sich öfffentlich aufzuregen? Ist das, was mich aufregt, ein spezieller Trigger für mich oder ist es allgemein untragbar? Könnte ich das begründen? Wurde mir das, worüber ich mich empöre, über Dritte oder ein vereinzeltes Medium zugetragen, und kann ich die Quelle des Problems recherchieren, um diese anstatt des weitergegebenen und damit immer konstruierten Bildes anzugreifen? Worauf fußt mein Gefühl der moralischen Überlegenheit? Woher nehme ich mir das Recht, über etwas zu urteilen? Kann ich das kohärent in Worte fassen?
Kann man diese Fragen nicht beantworten, ist es vielleicht zu früh, über soziale Kanäle und digitale Medien seiner Aufregung Raum zu geben. Vielleicht rantet man besser unter vertrauenswürdigen Freunden, tauscht sich aus, reflektiert, brüllt den Monitor an. Und kann dann überlegen, wie man am Besten verfährt. Empörung ist ein Treibstoff für Engagement. Aber bevor man fährt, macht man das Garagentor auf und überlegt sich, wo man hinwill.

Wir sind zu nett

Will man, dass gute ehrenamtliche Arbeit geleistet wird, hat man ein Dilemma: Leistung wird freiwillig erbracht und kann nicht eingefordert werden. Gelegentlich muss man aus Mangel an Ressourcen (Zeit, Geld, Interesse, Fähigkeiten) Abstriche bei den Ansprüchen machen. Es ist allerdings zu beobachten, dass "ehrenamtlich" und "freiwillig" Schlagworte sind, die es nahezu unmöglich machen, überhaupt Ansprüche zu haben und zu äußern.
Solange wir Arbeit, die gemacht werden muss, nicht bezahlen können, bleibt dieses Dilemma bestehen. Was uns fehlt, ist der Mut, Ansprüche ohne Gegenleistung zu stellen. Das bedeutet, schlechte Arbeit zu kritisieren, aus eigenen Fehlern zu lernen und das Argument "$Menschen haben sich viel Mühe gegeben" ein für alle Mal zu überwinden. Mühe und Wollen sind Anlass zu Lob und Dankbarkeit - kein Kriterium, Anträgen zuzustimmen oder Personen zu wählen. Als Partei muss es unser Ziel sein, unsere Inhalte voranzubringen. Dem darf der Wunsch, Mitglieder nicht zu enttäuschen, nicht übergeordnet werden. Dinge unter den Teppich zu kehren, schadet uns mehr, als es uns unangenehm berührt, die Scherben aufzusammeln. Ein Antrag, eine Kandidatur, auch formlose Vorschläge sind Angebote an die Partei. Ob sie diese annimmt, darf nicht von menschlichem Wohlwollen, Mitleid oder Symphatien bestimmt werden. Diese Dinge haben ihren Platz auf menschlicher Ebene. Dort werden sie auch gebraucht. Aber wenn Qualität oder Leistung beurteilt werden müssen, sollten auch wirklich nur diese betrachtet werden.

Wir sind nicht nett genug

Ist es also an der Zeit, mutig zu sein und Kritik zu äußern, kommt die menschliche Ebene gern hinterrücks wieder ins Spiel: in Form von Beleidigungen, agressivem Stil oder Unterstellungen. Da kritisieren wir zum Beispiel vermutete Absichten oder färben unsere Kritik mit Interpretationen der Persönlichkeit des Gegenübers. Wir müssen lernen, Sachebene von menschlichem zu trennen. Wer angegriffen wird, will sich verteidigen. Wenn wir aber etwas kritisieren, wollen wir nicht, dass sich jemand verteidigt. Wir wollen, dass er sich erklärt. Wir wollen, dass er Verbesserungsvorschläge macht oder annimmt. Wir wollen erreichen, dass etwas *besser* wird - das ist sehr viel leichter, wenn der Kritisierte Grund hat, mit uns zusammen daran arbeiten zu wollen.
Viele von uns sind Neulinge in der Politik, wenige für politische Arbeit qualifiziert. Wir tun sie trotzdem. Dabei passieren Fehler - manchmal hanebüchene, unverantwortliche und schwerwiegende Fehler. Wir sind wie Kinder, die nicht zuhören wollen, wenn es heißt, dass sie zu klein dafür sind. Aber wie bei Kindern hilft dann nur, uns Verantwortung zu lehren. Uns Konsequenzen aufzeigen. Und uns Gelegenheit geben, es wiedergutzumachen.

Wir sind zu nett

Es gibt auch immer wieder Fälle, da reicht das nicht. Da wird nicht wiedergutgemacht, da findet keine Einsicht, keine Erklärung statt, da wird Kritik nicht abgewägt, nicht reflektiert, sondern nur empört von sich gewiesen und zurückgeschlagen. Es gibt auch Fälle, da folgt ein scheiternder Versuch, es besser zu machen, dem nächsten, oder Versprechen auf Versprechen, sich zu verändern. Wieviel Flausch verträgt eine Partei da? Wieviel elterliche Geduld und Fürsorge sind zu viel? (Zwischeneinwand: an diesem Punkt ist es wichtig, sich zu vergewissern, dass ein tatsächliches Problem und nicht eine persönliche Abneigung gegen rein subjektiv wahrgenommene Verfehlungen besteht.)
Das Zauberwort lautet Konsequenzen. Eine Gemeinschaft braucht Spielregeln, und Regeln sind nur dann welche, wenn etwas passiert, wenn man sie bricht. Bei uns als Partei nennt man das Satzung, und durchgesetzt wird sie durch Vorstände und Schiedsgerichte. Wenn Reden nicht hilft und ergebnislos Zeit und Nerven bindet, gibt es da Leute, die kümmern sich dann darum. So jedenfalls ist es gedacht.
Mecklenburg-Vorpommern zeichnet sich hier durch eine ganz besondere Form des Flausches aus: sämtliche "zahnlosen" Ordnungsmaßnahmen wurden mit der Begründung, wir würden dergleichen nicht brauchen und es handele sich bei unseren Mitgliedern um erwachsene Menschen, die Probleme auf anderen Wegen lösen könnten, gestrichen. Die erste mir bekannte angestrengte Ordnungsmaßnahme wurde nicht nur gegen den Wunsch des Antragstellers veröffentlicht, sondern auch als Missbrauch von Parteiorganen bezeichnet. Dass zwei Instanzen dem Antrag stattgaben, hat diese Wahrnehmung bis heute nicht verändert.
Menschen sind nie alt genug, um Dinge vernünftig untereinander zu klären. Wäre dem so, könnten wir in Frieden und Gerechtigkeit in einer Anarchie leben. Fehlverhalten muss Konsequenzen haben. Auch eine zahnlose Ordnungsmaßnahme ist ein "Du, du!" von oben - oft reicht das. Ohne sie bleibt nur Selbstjustiz: soziale Ächtung, laute Empörung, hilflose Agression. Was ich von derlei Maßnahmen halte, erwähnte ich bereits.

Wir sind nicht nett genug

Am Ende bleibt, auf die Menschen gut aufzupassen, an denen wir nichts auszusetzen haben. Die Dinge, die wir untragbar finden, finden andere gut und wichtig, und was uns gefällt, ist dem Nächsten ein Dorn im Auge. Sobald wir aktiv werden, sichtbar werden, Bekanntheitsgrad erlangen, sind wir selbst Zielscheibe von Empörung, unsachlicher Kritik, vielleicht sogar Hass. Das ist leichter als ein Lob und bleibt länger im Gedächtnis - also lasst uns die Menschen loben, die uns wichtig sind. Am Rande, im Vorbeigehen, persönlich oder per Direktnachricht. Damit sie wissen, dass Menschen sie gut finden.
Und wenn wir uns empören: lass und uns so empören, wie wir uns wünschen, dass sich über uns empört würde. Ist nicht schwer zu merken. Lernt man eigentlich im Kindergarten.
Lasst uns erwachsen werden. Erwachsene Katzen sind auch immer noch niedlich und fallen dafür nicht so oft hin.
11.07.2013

Selbstlügen der Piratenpartei: Mitbestimmung, Beteiligung, Basisdemokratie

Wir sind die mit den Fragen, ihr die mit den Antworten.

Schon lange schreibt sich die Piratenpartei mehr Bürgerbeteiligung, mehr Demokratie wagen, mehr Mitbestimmung auf die Fahnen. Das ist ein schönes Ziel, mit dem wir uns gegen die Ellenbogengesellschaft in starren Hierarchien und die Delegiertensysteme anderer Parteien abgrenzen wollen und Bürgern mehr Einfluss in das Politikgeschehen geben wollen. Der Grundgedanke, dass man von unten mehr Einfluss nehmen können soll auf die Dinge, die oben beschlossen werden, ist eine prima Sache - leider führt das oft zu Verwirrung und Unklarheiten, was Zuständigkeiten angeht und was das denn im Einzelnen für uns bedeutet. Ich drösele daher hier mal ein paar häufige Streitquellen auf und lege dar, was ich unter mehr Beteiligung verstehe. Wie immer spiegelt dieser Post nur meine Meinung und keine unumstößliche Wahrheit wieder.

Recht und Anspruch

Ein Recht bedeutet nicht dasselbe wie einen Anspruch auf etwas zu haben, und auch Rechte sind oft an etwas gekoppelt. Zum Beispiel hat jedes Mitglied der Partei das Recht, an einem Parteitag teilzunehmen und dort sein Rederecht auszuüben. Das bedeutet nicht, dass es einen Anspruch darauf gibt, denn: wenn ich mir das Bein breche und nicht mobil bin, kann ich nicht erwarten, dass ich persönlich abgeholt und kostenfrei hingefahren werde. Wenn ich versuche, den Parteitag anzuzünden, kann mir Hausverbot erteilt werden. Und wenn ich etwas sagen möchte, die Versammlung aber beschlossen hat, die Rednerliste zu schließen, dann kann ich nicht öffentlich sprechen. Wenn ich meine Redezeit für themenfremde Äußerungen nutze, kann die Versammlungsleitung mir das Wort entziehen. Wenn meine Redezeit um ist, werde ich möglicherweise nicht alle Gedanken los, die ich äußern wollte. Wenn ich meinen Mitgliedsbeitrag nicht zahle, bin ich nicht stimmberechtigt. Und wenn ich zum Parteitag krank werde, kann ich nicht kommen, so schade das ist.
Das betrifft viele Rechte, die ich als Bürger oder Parteimitglied habe. Auch das Antragsrecht, das Recht, sich zu Wahlen aufstellen zu lassen, das Recht, öffentliche Veranstaltungen zu besuchen - keins davon stellt einen Anspruch dar. Der Unterschied: für die Ausübung meiner Rechte bin ich selbst verantwortlich. Für die Umsetzung eines Anspruchs sind es andere.
Das gilt übrigens auch für das gern zitierte Recht auf freie Meinungsäußerung: ja, ich darf sagen, was ich will. Niemand aber muss mir dafür eine Plattform bieten oder mir auch nur zuhören, und jeder darf wiederum seine Meinung dagegenhalten - auch, wenn diese Meinung daraus besteht, dass ich die Klappe halten solle. Eingeschränkt wird die Meinungsfreiheit auch durch die Rechte anderer: Ich darf nicht zu Straftaten auffordern, ich darf nicht beleidigen. Da werden meine Rechte ja schon einmal ganz schön beschnitten, und das vollkommen zu Recht.

Barrierefreiheit und Hürdenabbau

Überall da, wo Einschränkungen nicht absichtlich bestehen, sondern mit einem "leider" versehen sind, greift der Wunsch nach niedrigen Hürden und Barrierefreiheit. Hier muss man außerdem zwischen "fair" und "gerecht" unterscheiden. Dass ein Blinder nicht-digitale Texte nicht selbst lesen kann, ist schade. Fair wäre es, allen anderen die Augen zu verbinden. Gerecht wäre es, Screenreader und alle wichtigen Texte digital zur Verfügung zu stellen. Chancengleichheit ist nicht herstellbar - Menschen sind verschieden und bringen unterschiedliche Voraussetzungen mit. Was wir anstreben, ist Chancengerechtigkeit: unfaire Hürden senken, Barrieren abbauen, wo es geht. Das geht immer mit einer Kosten-Nutzen-Abwägung einher. Eigentlich alles, was man tun muss, um möglichst viele Menschen einzubinden, kostet entweder Zeit oder Geld, oder Zeit, die man Menschen bezahlen muss.

Holschuld und Bringschuld

Was also ist wessen Verantwortung, um Rechte möglichst frei ausüben zu können? Grundsätzlich einmal kann man verlangen, dass es überhaupt möglich ist, Rechte wahrzunehmen. Darum müssen zum Beispiel Parteitage rechtzeitig angekündigt werden, Akkreditierungsmöglichkeiten bestehen und Wege, Anträge einzureichen. Sind solche Grundvoraussetzungen nicht erfüllt, ist das Recht kein Recht mehr, sondern ein leeres Versprechen. Was man sich nur wünschen, aber nicht verlangen kann, ist, dass es einem leichter gemacht wird und Ausnahmen bedacht werden. Für Parteitage heißt das: Rollstuhlrampen, Gebärdendolmetscher, Übersicht über preiswerte Übernachtungsmöglichkeiten, ein übersichtliches Antragsbuch, Verpflegung auf dem Parteitag, Internetanschluss, genügend Sitzplätze, gute Belüftung, Licht und Tontechnik, die den jeweiligen Sprecher klar verständlich macht. Viele dieser Dinge sind als Selbstverständlichkeit anzusehen und können guten Gewissens gefordert werden. Sie sind aber nicht unbedingt Bestandteil des Rechts. Es ist Aufgabe des Teilnehmers, sich um die Ausübung seines Stimm-/Rede-/Antragsrechts zu kümmern. Es ist Aufgabe der Partei, ihm Möglichkeiten dafür zur Verfügung zu stellen.

Verwaltender Vorstand

Nun wird gerade für Parteitage viel getan, um sie zugänglicher zu machen. Reisekostenerstattung, Sonderangebote der Bahn, Couchsurfing oder kostenlose Schlafplätze, Gebärdendolmetscher, Streaming - die Absicht, möglichst viel Beteiligung zu ermöglichen, ist klar erkennbar. Sollten wir es irgendwann schaffen, eine lauffähige SMV zu beschließen, würden auch zeitliche, soziale und gesundheitliche Hürden drastisch gesenkt werden können.
Wo die Rechte zur Mitbestimmung viel unklarer geregelt sind, ist die Verwaltung. Da wir inhaltliche Beteiligungsmöglichkeiten für alle Mitglieder anstreben, sollen unsere Vorstände nur verwaltend tätig werden. Genau diese Verwaltung ist es jedoch, die diese Beteiligungsmöglichkeiten schafft und die Verantwortung für ihre Umsetzung trägt. Eine Verwaltungsentscheidung hat daher immer auch Einfluss auf das Politische. Von einem Vorstand zu verlangen, dass er nie politisch handelt, sehe ich als undurchführbar an. Vielmehr muss man fordern, dass Vorstände im Einklang mit demokratisch beschlossenen Beschlüssen handeln - mit der Satzung sowieso, mit dem Programm, und dass sie die Forderungen, die wir an die Regierung stellen, selbst mit gutem Beispiel voran umsetzen. Das betrifft vor allem Beteiligung, Transparenz und Datenschutz - wenn wir hier nicht nach unseren eigenen Maximen handeln, machen wir uns schnell unglaubwürdig. Datenschutz und Transparenz erfordern einen eigenen Post an gesonderter Stelle. Ich gehe daher direkt zur Beteiligung über.

Die Grenzen der Mitbestimmung

Kommen wir nun also zum Grund, warum ich Basisdemokratie und Mitbestimmung mit "Selbstlüge" betitelt habe. Zum einen, weil damit oft ein Anspruchsdenken einhergeht, das der Realität und auch Praktikabilität einfach nicht gerecht wird. Und zum anderen, weil es Grenzen gibt, über die hinaus eine Partei, aber auch eine Gesellschaft, handlungsunfähig wird, wenn sie keine Zuständigkeiten oder Hierarchien hat. Wir haben eine repräsentative Demokratie, weil täglich sehr viele Entscheidungen getroffen werden müssen. Niemand kann all diese Entscheidungen selbst treffen, und schon gar nicht kann man jede Entscheidung immer von allen treffen lassen - das ist allein zeitlich nicht möglich. Auch, dass niemand sich mit allem auskennt und nicht für alles Interesse mitbringt, schränkt die Möglichkeiten ein. Und nicht zuletzt müssen Entscheidungen manchmal schnell getroffen werden. Demokratie kann lähmend sein. Und dann kommen wir doch noch kurz zum Datenschutz: würden wir z.B. über Mitgliedsanträge oder Ordnungsmaßnahmen abstimmen, würden personenbezogene Daten grundsätzlich an alle herausgegeben werden müssen.
Vorstände und Beauftrage braucht es vor allem aus drei Gründen:
1. es gibt Dinge, die sollten nicht allgemeinöffentlich passieren, um Persönlichkeitsrechte zu wahren. Dafür braucht es Menschen, denen die Basis oder die Bürger vertrauen müssen, weshalb die Personen, die sie erledigen, demokratisch gewählt werden sollten, dann aber diese Dinge selbständig erledigen (Gewaltenteilung und Kontrollinstanzen vorausgesetzt).
2. es gibt Dinge, die müssen einfach gemacht werden, egal, ob sich Menschen finden, die darauf Lust haben. Das geht nur, wenn jemand zuständig ist. Pflichten lassen sich nicht auf eine Masse von Menschen verteilen. Kein Projekt scheitert schneller als jene, die mit "man müsste mal" beginnen.
3. es gibt Dinge, die rein organisatorischer Natur sind und die demokratisch in Beschäftigungstherapie ausarten, die ewig dauert und am Ende zu objektiv schlechten Ergebnissen führen kann, weil Beschlüsse dann vielleicht nicht durchführbar oder bezahlbar sind.

Mehr Struktur wagen

Die Untersuchung der Superdelegierten von Niels hat gezeigt, dass im LQFB überwiegend auf Menschen delegiert wird, die sehr aktiv sind, regelmäßig abstimmen, selbst Anträge einbringen und für Anträge werben. Es ist nur natürlich, dass Aktive mehr Einfluss nehmen können als Wochenendpiraten. Das gilt auch außerhalb von LQFB. Basisdemokratie heißt nun nicht, dass alle gleich viel Input geben müssen. Nur, dass es jedem frei steht, das zu tun.
In der Praxis heißt das, dass jemand etwas tut und dann von allen Seiten zu hören bekommt, wie er es hätte machen sollen und warum er nicht mit allen anderen vorher gesprochen hat. Basisdemokratie funktioniert nur in geordneten Strukturen. Auf Parteitagen haben wir Strukturen in Form von Geschäftsordnung, Tagesordnung, Versammlungsleitung und Wahlleitung, mit klar umrissenen Aufgaben, Befugnissen und Regeln. Ohne diese hätten wir nur einen Raum mit Geschrei oder ein Ferienlager, ohne Ergebnisse. Strukturen haben wir auch online im Liquid Feedback. Seit Kurzem gibt es in MV eine ständige Mitgliederversammlung. Aber auch hier gibt es eine Geschäftsordnung und damit verbundene Regeln, zum Beispiel die Phasen, die ein Thema durchläuft, oder die Quoren.
Was ich mir wünsche, sind klare Zuständigkeiten und Befugnisse, dass Verantwortung aus diesen Zuständigkeiten auch wahrgenommen wird, und ein Bewusstsein dafür geschaffen wird, mit welchen Anliegen man sich an die Mailingliste oder die SMV, und mit welchen man sich besser direkt an die Zuständigen wendet.
14.06.2013

Bleib tapfer

Wie man sich Motivation in der Piratenpartei (und anderen Organisationen) erhält

Wer sich länger als ein paar Wochen in dieser Partei oder auf ihren Medien aufhält, begegnet früher oder später unweigerlich Äußerungen der Verbitterung, Enttäuschung oder Verzweiflung - manchmal aus seinem eigenen Mund. Menschen treten aus. Menschen werden beleidigt, demontiert oder sabotiert. Menschen brennen aus und können oder wollen nicht mehr.

Das ist normal.

Wer mit Herzblut bei einer Sache ist, dem wird dieses manchmal vergossen. Für Motivationsprobleme gibt es viele Ursachen, einige davon unvermeidlich. Ich möchte an dieser Stelle versuchen, sinnvollen Umgang mit ihnen aufzuzeigen. Auf dass wir mit uns und unserer Partei glücklicher werden.

Warum mach ich den Scheiß überhaupt?

Manchmal stellt man sich diese Frage rein rhetorisch. Dabei ist es durchaus sinnvoll, gelegentlich darüber nachzudenken, und es nötigenfalls schriftlich festzuhalten. Darin liegt auch der Schlüssel dazu, Frustrationsquellen ausfindig zu machen, ihnen aus dem Weg zu gehen oder Möglichkeiten zu finden, mit ihnen umzugehen. Dabei gibt es keine falsche Antwort - politisches Engagement kann aus Idealismus entstehen oder dem Wunsch, die Welt zu verbessern, aber auch aus Zusammengehörigkeitsgefühl oder dem Bedürfnis nach Anerkennung. Vielleicht wollte man Teil einer Bewegung sein und sich vom Geist der Zeit mitreißen lassen, oder man möchte eigene Ziele politisch durchsetzen. Vielleicht träumt man von Ruhm oder Reichtum, vielleicht möchte man sich wichtig fühlen. Alle diese Gründe sind legitim - man sollte zumindest vor sich selbst ehrlich genug sein, sich über den Ursprung seiner Motivation im Klaren zu sein.

Dinge, die man so schlucken muss

Es gibt Probleme, die es schon immer gab, immer geben wird und die einem überall begegnen. Manche Dinge muss man tatsächlich hinnehmen, weil man sie nicht ändern kann. So vereinen Parteien zum Beispiel Menschen mit unterschiedlichen Interessen, Themenschwerpunkten und Persönlichkeiten. Seit die Piraten nicht mehr allein netzpolitisch aufgestellt sind, ist das Programm um viele Punkte und Grundsätze erweitert worden, die ihre eigenen Anhänger anziehen - die dann möglicherweise mit den ursprünglichen Kernthemen nichts mehr am Hut haben. Das liegt aber in der Natur der Sache - eine Partei stellt immer ein Paket an Standpunkten dar, aus dem man sich nicht Einzelheiten herausgreifen kann. Kaum jemand wird einem so umfangreichen Programm in allen Einzelheiten voll zustimmen können. Das heißt aber auch, dass ständig Unzufriedenheit mit einzelnen Punkten herrscht, die von einer Minderheit aufrechtgehalten wird, der der Mehrheitsbeschluss nicht gefällt. Und so ziemlich jeder von uns ist Teil einer solchen Minderheit.
Das muss man schlucken. Das geht nicht anders. Denn entweder steht man hinter dem Programm, oder aber nicht - zwar können sich Mehrheiten verändern und Beschlüsse neu gefasst werden, praktisch gibt es aber eher selten tatsächliche Richtungswechsel, und auch dann meist in Form schleichender Veränderungen. Die Frage, die man sich hier stellen muss, ist: kann ich die Ziele dieser Partei im Großen und Ganzen vertreten?

Man kann die Partei nicht wechseln

Also, man kann schon. Aber eine andere Partei bedeutet andere Ziele, andere Schwerpunkte, andere Menschen und auch andere Strukturen. Parteien sind nicht wie Sportvereine, von denen man, so eine Auswahl vorhanden ist, sich den suchen kann, in dem man sich am ehesten wohl fühlt. Mit einem bestimmten politischen Profil kann man die Wahl der eigenen Partei nicht von anderen Dingen abhängig machen, wie der Freundlichkeit der Kollegen oder den eigenen Aufstiegschancen. Da eine Partei als Zusammenschluss von Menschen mit ähnlichen politischen Zielen definiert ist, haben diese Ziele hier Priorität. Für wen eine andere Partei eine echte Alternative darstellt, der muss sich im Klaren darüber sein, warum er sich für die Piraten entschieden hat - und diese Entscheidung bei Bedarf überdenken. Gibt man den Piraten ein überzeugtes Ja, muss man zu diesem Ja auch stehen können - trotz allem Frust (es ist ja auch nicht gesagt, dass es woanders besser wäre). Für die meisten Leute dürfte sich aber weniger die Frage danach stellen, welcher Partei sie angehören wollen, sondern eher, ob überhaupt. Und dazu ist ein Abwägen erforderlich - sind die Gründe, die dafür sprechen, überwiegend? Wenn ja, was mache ich mit den Gründen dagegen?

Was machen diese Idioten hier?

Wie bereits angedeutet, ziehen Parteien die unterschiedlichsten Leute an, solange sie nur gewisse Interessenüberschneidungen haben. Man kann sich all diese anderen Menschen nicht aussuchen. Man kann nur mit ihnen umgehen. Die Piraten haben noch ein weiteres Problem: sie sind eine junge Partei, die abseits ihres Kernthemenkomplexes lange kein starkes Profil hatte, zumindest nicht in der öffentlichen Wahrnehmung. Das zieht eine Reihe Leute an, die ansonsten sehr unterschiedliche Vorstellungen haben und mit denen man daher unter Umständen so gut wie nichts gemeinsam hat. In aufstrebende Kleinparteien treten weiterhin Querulanten ein, die bereits anderswo rausgeflogen sind, Opportunisten, die Strukturschwäche ausnutzen, um ein Pöstchen abzugreifen, und selbsternannte Freidenker, die abstruse Ideen salonfähig machen wollen und ihre Chance gekommen sehen. Und das Lustigste daran: es ist oft nicht sofort ersichtlich, ob ein Mitglied zu einer dieser Gruppen gehört, und jeder kann für andere wie einer dieser Typen wirken. Genug Futter also, um Fehden und Kleinkriege über Jahre aufrechtzuerhalten. Wichtig: kritisieren lässt sich nur Verhalten, nicht vermutete Absichten. Letzten Endes spielt es nämlich keine Rolle, was jemand in dieser Partei will - ausschlaggebend ist allein, was er tut, um es zu erreichen.

Die anderen sind das Problem

Ganz oft äußert sich Frust in der Form: "Alles wäre gut, wenn nicht $Person(en) wäre(n)!". Verschiedene Leute sagen das über verschiedene andere. Wer genügend aktiv ist, wird das früher oder später auch über sich selbst hören. Willst du etwas bewegen, musst du dich mit anderen auseinandersetzen. Das ist der Kern politischer Arbeit - Standpunkte zu vertreten, auch und sogar vor allem gegenüber Leuten, die sie nicht teilen. Es gehört zum politischen Alltag, Meinungsverschiedenheiten zu haben, und zu Meinungsverschiedenheiten gehört auch immer, dass man "etwas aufgedrückt" bekommen soll oder "blockiert wird", je nachdem, auf welcher Seite man gerade steht. Konsens ist nun einmal ein seltenes Phänomen, und das heißt, dass man immer und ständig mit Menschen zu tun hat, die etwas verhindern wollen, das man möchte, oder etwas anstreben, das man verhindern will. Damit daraus keine kollektive gegenseitige Zerfleischung wird, braucht es eine sachliche und rücksichtsvolle Diskussionskultur. Dass wir diese nicht haben, ist hinreichend bekannt.

Hör auf, mich zu deprimieren!

Entschuldigung.
Es gibt natürlich Dinge, die man tun kann, um sich nicht deprimieren zu lassen und trotzdem etwas zu erreichen.

Klappe halten, weitermachen!

Seinen Frust pur in Form von "das macht alles keinen Spaß mehr" herauszulassen tut nur sehr kurzfristig gut. Jammern hilft nicht - maximal bekommt man Zuspruch von denjenigen, die man sowieso auf seiner Seite weiß, und den kann man sich auch abholen, ohne öffentlich schlechte Stimmung zu verbreiten. Öffentlich ist hier das Stichwort: jeder muss hin und wieder Dampf ablassen, und Sorgen in sich hineinzufressen staut sie nur auf. Also geh und beschwere dich - unter Freunden bei einem Bier. Zuhause beim Abendbrot. Gegenüber der Katze. Bei jedem nicht lösungsorientierten Wehklagen sollte man aber unbedingt auch die Stimmung des Gegenübers im Auge behalten - wer von Frust verschont ist und mit Eifer bei der Sache ist, den kann es sehr schnell lähmen, wieder und wieder zu hören, wie schlecht eigentlich alles sei. Wer gerade wieder neuen Mut geschöpft hat, der fällt leicht wieder in sich zusammen, wenn ihm eine finstere Zukunft prophezeiht wird. Und wer seinen Partner über lange Zeit an Partei oder Parteikollegen verzweifeln sieht, möchte irgendwann mit der Faust auf den Tisch hauen und sagen:

Dann hör den Idioten doch einfach nicht zu!

Tatsächlich steht nirgendwo geschrieben, dass man sich dem Diskurs stellen muss. Oder die Mailingliste lesen. Oder Menschen auf Twitter folgen, deren Äußerungen einen regelmäßig in Rage bringen. Selbst wenn man sich inhaltlich einbringt und dafür Rede und Antwort stehen möchte, kann man das genauso über private Nachrichten oder eine umfassende Antragsbegründung tun. Niemand zwingt dich, dir alles anzuhören, was in der Partei gesprochen wird, und niemand zwingt dich, immer zu antworten, wenn im Internet jemand unrecht hat. Um etwas zu bewegen, brauchst du auch weder einen Stammtisch, noch eine AG, noch ein Parteimedium. Du brauchst nur eine gute Idee. Was dich persönlich belastet und keinen sichtbaren Nutzen hat: lass es weg! Du musst das nicht tun.

Es macht doch aber sonst keiner!

Sei ehrlich: muss es wirklich unbedingt getan werden? Bist du sicher, dass absolut niemand anders das tun würde oder könnte? Ja? Das heißt noch lange nicht, dass du dafür zuständig bist. Du bist niemandem etwas schuldig. Nicht der Partei, nicht den Menschen in ihr, auch nicht dem Bürger, für den du das alles vielleicht tust oder glaubst, zu tun. Konzentriere dich auf die Dinge, die dir Spaß machen, auf die du stolz bist und für die du keine Gegenleistung erwartest. Wenn du etwas, um das du nicht gebeten wurdest, für Dankbarkeit tust, die dann nicht kommt, machst du dich nur unglücklich. Was du tust, ist aber gut und wichtig? Das sieht nur keiner? Dann hat es auch keiner verdient!

Schaffe dir Erfolgserlebnisse!

Dein letzter Antrag wurde in der Luft zerrissen von Leuten, die keine Ahnung haben und ihn vermutlich nicht einmal gelesen haben? Immer, wenn du dich einbringst, wirst du angepöbelt? Du hast für irgendetwas kandidiert und wurdest nicht gewählt? Dann mach erst einmal etwas, was du unbestritten kannst, oder für das du in jedem Fall Dankbarkeit bekommst. Such dir eine Aufgabe, die schon lange mal gemacht werden musste, aber auf die niemand Lust hat. Arbeite Leuten zu, die sich darüber freuen oder darum bitten. Stelle einen Antrag, von dem du weißt, dass er mehrheitsfähig ist. Oder kümmere dich um Sachen, die dich tatsächlich interessieren, die du bisher immer hinten angestellt hast, oder von denen andere dir sagen, sie seien unwichtig. Blocke diese Leute auf Twitter, sperre ihre Nummer in deinem Handy, markiere ihre Emails als Spam und mache es dann trotzdem. Du darfst das. Du darfst deine Energie verwenden, wofür auch immer du möchtest - und was du nicht möchtest, musst du auch nicht tun.
(Das trifft natürlich nicht ganz auf Beauftragte, Vorstände oder Kandidaten zu. Es tut mir leid, aber ihr habt euch das ausgesucht.)

Dann geh eben dort drüben spielen.

Die Partei ist groß. Es gibt nicht nur deinen Stammtisch. Es gibt nicht nur deine AG, die Leute, mit denen du zusammenarbeitest und die Leute, die du auf Parteitagen triffst. Die Partei ist so groß, dass niemand überall gleichzeitig sein kann, und das bedeutet gleich mehrere Dinge. Die anderen, die an allem schuld sind, sind nicht überall. Es gibt Nischen in dieser Partei, die du nicht kennst, aktive, kluge, großartige Mitglieder, deren Arbeit du noch nie wahrgenommen hast. Es gibt einen Platz für dich, an dem du es besser hast. Und wenn du wieder Motivation übrig hast, kehrst du gestärkt und frisch ausgeruht zurück. Oder nicht. Je nachdem, wie du "Warum mach ich den Scheiß überhaupt" beantwortet hast.
Findest du kein anderes Betätigungsfeld oder hast du das Gefühl, dass du nur an diesen Platz gehörst, an dem du dich so unwohl fühlst, dass du das hier immer noch liest, dann hilft manchmal nur noch eins:

Nimm Abstand!

Kenne deine Grenzen. Nimm dir mehr Zeit für dich, deine Familie, deine Freunde außerhalb der Partei. Mach mal wieder etwas anderes. Schau über den Tellerrand: was von innen aussieht wie der Untergang des Abendlandes, fällt vielleicht außerhalb kaum ins Gewicht. Die Dinge, die in Griff zu bekommen dich so viel Zeit und Kraft kostet, sind möglicherweise nur lokal, temporär oder auf dein Umfeld beschränkte Probleme. Manch eines löst sich auch von ganz allein - oder hat von Anfang an keiner Lösung bedurft. Wenn du dich oft mit anderen Mitgliedern streitest, weil ihre Ansichten oder Behauptungen so inakzeptabel sind, dass du sie nicht stehenlassen kannst - ist es wirklich schlimmer, jemanden im Unrecht sein zu lassen, als immer weiter zu eskalieren? Und denkt der andere nicht das Gleiche über dich?

Bessere dich!

Natürlich liegt die Schuld nicht bei dir - das tut sie nie. Aber Einfluss hast du nur auf dich selbst. Du allein kannst die Partei und ihre Strukturen nicht ändern, und anderen nicht vorschreiben, wie sie sich zu verhalten haben. Aber du kannst dich selbst ändern, damit du es leichter hast. Tu das.
Dazu gehört auch, sich selbst einmal gründlich zu hinterfragen. Sind deine Ziele so, wie du sie verstehst, wirklich der Inbegriff der Piratigkeit, wie sie schon immer gedacht war? Bist du wirklich geeignet für die Dinge, die du tust? Machst du die Aufgaben, die du übernimmst, tatsächlich gut? Könnten die Kritiker vielleicht Recht haben?
Dieser Punkt fällt ein wenig unter das Prinzip "Es muss erst schlechter werden, bevor es besser werden kann." - das ist eine unangenehme Angelegenheit, die sehr wehtun kann und zunächst wenig Motivation produziert. Auf lange Sicht zahlt es sich jedoch aus, Selbst- und Fremdbild stärker in Einklang miteinander zu bringen und sich nicht zu überschätzen. Denn Ärger, Kritik und Anfeindungen bekommt jeder, der etwas tut. Das musst du aushalten können. Das ist viel leichter, wenn an dieser Kritik nichts dran ist. Sorg dafür, dass du dich nur für die Fehler entschuldigst, die du tatsächlich hast - aber geh sicher, dass du weißt, welche das sind.

Warte ab.

Wir sind immer noch Amateure, zumindest die meisten von uns. Wir wollen alle gleich immer in alles selbst einbezogen werden, und wir wollen unsere Erfahrungen selbst machen. Was uns zu professionell vorkommt, nennen wir Politik 1.0 oder nicht authentisch genug. Mit dem Überraschungsergebnis Berlins und der folgenden Erfolgswelle sind viele Menschen auf einen Schlag eingetreten - das hat unsere Mitgliederstruktur komplett umgekrempelt. Es ist aber unwahrscheinlich, dass es so einen Umsturz noch einmal geben wird. Auch wachsen die Neumitglieder von damals in die Partei hinein, machen ihre Erfahrungen, lernen dazu. Die Professionalisierung, die wir so dringend brauchen, passiert also schleichend von ganz allein. Dazu kommt, dass uns ein Wahlkampf bevorsteht. Das schweißt zusammen. Für einen gemeinsamen Zweck besinnen wir uns wieder mehr auf unsere Gemeinsamkeiten statt unsere Unterschiede, und lernen, zusammenzuarbeiten, weil wir es müssen. Niemand möchte Schuld an einem schlechten Wahlergebnis sein. Probleme, die unterschwellig schwelen, werden im Wahlkampf auf den Tisch kommen und abgehandelt werden, damit es weitergehen kann - einfach, weil es dann nötig ist. Das löst nicht alles - aber mit Sicherheit einiges.

Das hilft mir alles nicht weiter.

Überraschung: es gibt Probleme, die sich mit Motivation nicht beheben lassen. Solche Probleme brauchen Lösungen. Finde sie. Such dir Hilfe. Suche nicht in einem Blogpost mit vage aufmunterndem Titel und albernen Zwischenüberschriften.
Eine Partei ist kein Kindergarten, und man muss sich nicht alles gefallen lassen. Manche Beschlüsse sind objektiv schlecht. Gelegentlich wird sich nicht an Prozesse oder Satzung gehalten, manchmal dem Programm grundsätzlich entgegengesetzte Meinungen proklamiert. Ja, manchmal muss man etwas tun. In dem Fall ist dein Problem aber nicht die fehlende Motivation (und fällt damit nicht mehr in die Zuständigkeit dieses Textes).

Zum Zeitpunkt der Entstehung war ich dem wenig positiv gegenüber eingestellt, aber: Austreten geht auch. Wenn es einem schwerfällt, sich zurückzuziehen, weniger zu machen oder anderes zu machen: sich komplett und formell loszusagen, kann auch ein Befreiungsschlag sein.
21.05.2013

Warum ich der MV-Mailingliste den Rücken kehre (mit Statistik!)

Ich lese die MV-Liste jetzt seit dem 6. Juli 2012, die von Rostock einen Monat länger. In dieser Zeit habe ich 76 Mails in 33 Themen geschrieben und bin der 19.-produktivste Schreiber dieses Jahres. Von den 3458 Mails seit Januar habe ich über 2000 tatsächlich gelesen. Ich habe die ML als Informationsquelle schätzen gelernt: Man bekommt Ankündigungen, Veranstaltungen, Themen, die gerade aktuell sind, bequem ins Emailpostfach und kann sie jederzeit nachlesen. Als Ergänzung zu Stammtischbesuchen ist sie damit sehr wichtig (insbesondere, da unsere Öffentlichkeitsarbeit diesen Punkt nicht abdeckt – diese Dinge würde ich gerne auch über Twitter, Facebook, die Webseite, den Kalender erfahren, bin aber auf die ML angewiesen, um auf dem Laufenden zu sein.)
Was die Mailingliste aber nicht ist: Ein geeignetes Medium für Diskussionen oder produktive Arbeit.

Warum?

Sie ist nicht repräsentativ.

30% des Emailaufkommens wurde von vier Leuten verfasst. Die zehn häufigsten Schreiber sind verantwortlich für mehr als die Hälfte aller Emails – und das bei über 140 verschiedenen Absendern insgesamt. Unter den wenig bis gar nicht Schreibenden sind Menschen, die ich vom Stammtisch, Parteitagen oder Aktionen kenne. Es ist also anzunehmen, dass auch in anderen Städten und Kreisen Aktive sind, die die Mailingliste kaum oder gar nicht nutzen. (Deren Meinung ist also dort so gut wie nicht vertreten.) Sobald es tatsächlich zu inhaltlicher Auseinandersetzung mit Themen kommt, liest man die immer gleichen Leute.
Ja, dabei kommt es zum Austausch von Argumenten. Unter anderem. Repräsentativ für die Meinung der Basis ist das jedoch nicht.

Sie ist unfreundlich.

Unter den Vielschreibern sind Menschen, die sich hauptsächlich unsachlich, themenfremd oder wenig zielführend äußern. Das hilft nicht dabei, eine offene Diskussionskultur zu schaffen. Jedes längere Thema enthält Beiträge, die die Berechtigung der Diskussion in Frage stellen (und damit diese Debatten länger am Leben erhalten). Regelmäßig wird Menschen die Verteilung ihrer Aufmerksamkeit vorgeworfen – dass sie sich mit bestimmten Dingen beschäftigen, oder mit bestimmten anderen Dingen nicht. Das ist destruktiv. Dazu kommen auch immer wieder Unterstellungen, offene und weniger offene Beleidigungen und zum Teil absurde Spekulationen über heimliche Hintergedanken einzelner Standpunkte.
Es gibt eine Menge Beiträge, die stehen irgendwo dazwischen: Nicht ganz sachlich, schlecht oder gar nicht begründete Argumente und Meinungen, die ich weder teile noch nachvollziehen kann. Das ist okay. Angriffe auf andere Teilnehmer der Diskussion, Unterstellungen: Nicht okay.
Der Appell hat eine zeitlang dazu geführt, dass insgesamt weniger geschrieben wurde, dass sich viele Äußerungen des lieben Friedens willen einfach verkniffen wurden, und dass manche Dinge lieber direkt angesprochen wurden als für alle auf der Liste. Das hat sehr gut getan. Auf der Unterzeichnerliste fehlen mir jedoch einige Leute, die ich dort sehr gerne gesehen hätte, und zwei Menschen sind ohne Begründung vom Appell zurückgetreten. Damit ist unklar, ob das ein vorübergehender Effekt war oder nicht. Ich für meinen Teil werde mich weiterhin bemühen, ihn einzuhalten – die beschriebenen Verhaltensversprechen sind eine gute Richtlinie für jede Kommunikation. Nicht nur für Unterzeichner, nicht nur auf der Mailingliste, nicht nur unter Piraten.

Sie macht hilflos.

Die Mailingliste hat keinerlei regulierenden Mechanismen, um mit diesen Problemen umzugehen. Sie wird nicht moderiert. Beiträge können nicht mehr gelöscht oder editiert werden. Emails sind öffentlich im Sync-Forum – jedes über-die-Stränge-Schlagen ist für alle Zeiten nachlesbar.
Es heißt, man solle Trolle nicht füttern. Unwahrheiten oder Angriffe unkommentiert in aller Öffentlichkeit stehenzulassen kann aber auch nicht die Lösung sein. Denn es gibt etwas, was man immer leicht vergisst: Trolle wissen nicht, dass sie Trolle sind. Es mag Menschen geben, die bewusst Diskussionen sabotieren und Menschen schaden wollen. In aller Regel passiert das jedoch durch Menschen, die nicht wissen was sie tun, oder sich im Recht sehen. Wie überall gilt jedoch auch hier: Etwas kaputtzumachen ist sehr viel leichter als etwas aufzubauen. Dieses destruktive Klima hemmt den ganzen Landesverband, vergrault potentielle Unterstützer und vertreibt produktive Mitglieder. Der vielgerühmte Flausch ist hier Teil des Problems: Er versucht, Dinge unter den Teppich zu kehren, unterbindet Kritik, egal wie sie geäußert wird und schützt unprofessionelle Strukturen, die nicht funktionieren.
Das soll nicht heißen, dass es gar kein Eingreifen gab, wenn etwas aus dem Ruder lief: Von einzelnen Mitgliedern (und auch schon mal vom Vorstand in sehr löblicher Manier) gab es immer mal wieder (wenn auch nicht oft genug) Hinweise darauf, wenn das Thema verfehlt wurde, der Tonfall problematisch war oder ein Beitrag versucht hat, eine Diskussion zu diskreditieren. Genützt hat es oft gar nicht und nie nachhaltig.

Sie blickt auf Interna herab.

Jedes Thema, dass sich mit den inneren Angelegenheiten der Partei befasst, wird als Selbstbeschäftigung abgetan und bekommt meist sehr schnell einen Beitrag der Sorte „habt ihr nichts Besseres zu tun?“. Mit dieser Begründung könnten wir die Partei eigentlich sofort auflösen: Eine Organisation muss sich organisieren. Und in jeder Organisation gibt es Menschen, die sich mehr damit befassen, wie sie organisiert ist, als mit ihrem eigentlichen Zweck. Und das ist gut so. Denn gute Organisation dient dazu, Handlungsfähigkeit herzustellen und es so einfach und produktiv wie möglich zu machen, dass sich Menschen in ihr engagieren. Wem persönlich das Interesse daran fehlt, muss sich damit nicht auseinandersetzen. Wieder und wieder wird an solchen Stellen jedoch blockiert.
Die Beteiligung gibt mir an dieser Stelle recht: Von den 25 Themen, die dieses Jahr mehr als zwanzig Mails erreicht haben, waren 19 (!) Interna. Und nur am Rande: Viele Kernthemen der Piratenpartei betreffen das „Wie“ der Politik und nicht das „Was“. Die Forderung nach Transparenz, mehr Basisdemokratie, mehr Mitbestimmung und Barrierefreiheit: Was sind diese Themen, wenn nicht Ansprüche an die Art und Weise, auf die Demokratie gelebt wird? Damit sind viele dieser Interna auch gleichzeitig Inhalte – und wahlkampfrelevant. Ein fortschrittliches innerparteiliches Wahlsystem oder eine ständige Mitgliederversammlung, die auch Programm beschließen kann, können Vorbildwirkung dafür haben, wie wir uns Politik auch außerhalb unserer Partei vorstellen. Und das zieht ebenso Wähler an wie unsere anderen Inhalte.

Sie überzeugt ja doch niemanden.

Ich frage mich oft, ob Argumente je jemanden überzeugt haben. Die Mailingliste ist ein gutes Beispiel dafür: Selbst wenn alles bereits gesagt wurde, streiten Einzelne weiter und weiter, wiederholen sich und degenerieren in Emotionsargumente oder Zirkelschlüsse („das ist doof, weil doof“). Die Liste zeigt sich dabei oft erstaunlich faktenresistent.
Die Möglichkeit zum Austausch von Argumenten und zur Begründung von Standpunkten ist wichtig. An sich. Die Liste schießt darüber regelmäßig weit hinaus und ist (siehe „nicht repräsentativ“) bestenfalls ein Zerrbild der Meinungen im LV.

Fazit: Ist das Politik oder kann das weg?

Ich werde die Mailingliste weiter lesen. Sporadisch. Denn informieren über aktuelle Veranstaltungen, Ausschreibungen, Anträge, Beschlüsse und Themen tut sie mich weiterhin. Auf den Diskurs-Teil kann ich jedoch getrost verzichten.
LiquidFeedback bietet die Möglichkeit, über Begründungen, Anregungen und Alternativanträge Argumente aufzulisten und mitzuteilen. Seit einiger Zeit sind auch Abstimmkommentare möglich, so dass die eigene Entscheidung mit einer Stellungnahme versehen werden kann. Auf Realversammlungen werden Anträge zusätzlich mündlich vorgestellt. Fragen an Antragsteller kann man ebenso immer stellen – ob per Email, Anregung oder mündlich. Über das Für und Wider von Entscheidungen kann ich auf dem Stammtisch reden, den Kontakt zu Menschen außerhalb auch über andere Kanäle suchen.
Ich habe in meinem einen Jahr Partei Menschen brennen sehen für ihre Sache, für unsere Ziele. Ich habe auch Menschen ausbrennen sehen. Ich selbst will mir das nicht geben. Für meine Meinung kann ich auch anderswo einstehen – in meinem Blog, auf Twitter, in persönlichen Gesprächen, im Wahlkampf und an Infoständen.
Mein Ja zur Partei, zu unserem Programm steht und bleibt unberührt. Der Mailingliste MV als Medium, das ich aktiv nutze, sage ich Tschüß.
28.04.2013

Debugging

in moonlight i'm coding
- no, cut out the moon!
my windows are darkened
and it sets really soon
there's no way of knowing
if I'll be here still
when it's again rising
up over my sill

at nighttime i'm coding
in my darkened room
a sense of foreboding
then suddenly: boom
I look on in terror
as i wrathful spy
a horrible error
which eluded my eye

though finally i know
the trouble's root
all my workarounds now
are suddenly moot
i have spent so much time
looking where i went wrong
for me now to find out
i was right all along

so i start deleting
my helper functions
the no longer needed
logical junctions
hello world - it's working
i shout out in glee
and i curse thee, bracket
for going missing on me


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